Inventarisation des Unzeitgemäßen?
Nachkriegsarchitektur im Saarland und Denkmalpflege
Im Saarland gibt es noch viele Bauten und Objekte der 1950/60er Jahre, die authentisch erhalten sind. Die Erforschung dieses breiten Spektrums charakteristischer und aussagekräftiger Baudokumente kann unser Geschichtsbild von der Nachkriegszeit im Saarland aufschlussreich erweitern und präzisieren. Dabei geht es nicht nur um die Werke überregional bekannter Baukünstler, sondern zahlreicher anonymer oder nur lokal bekannter Architekten. Wir finden die ganze gemischte Palette der architektonischen Phänomene dieser Zeit vor: traditionsgebundene, organische, kubische, rationale und freiplastisch modellierte Formen, regelmäßige Fassadenraster, sparsame Grundrisse und Ausstattungen, "ungewohnte" Farbkombinationen, neuartige Materialqualitäten und Oberflächenstrukturen vom ziselierten Mosaik bis zum schalungsrauhen Sichtbeton, markante städtebauliche Akzente und Experimente, räumlich großzügig dimensionierte Orte der Gemeinschaft, ausgreifende Terrassen-, Platz- und Brunnengestaltungen im öffentlichen Raum sowie Kunst am Bau. Trotz Einfachheit und Bescheidenheit der baulichen Mittel mangelt es nicht an phantasievollen Detailausbildungen. Die dynamisch-elegant geschwungenen Bauten der 1950er Jahre mit ihren schlanken Konstruktionen und filigranen Details stellen handwerklich umgesetzte ideenreiche Reißbrettentwürfe dar, die zu einem späteren Zeitpunkt allein durch die wachsenden Anforderungen der Bauvorschriften nicht mehr realisiert werden konnten. Typische Bauaufgaben der Wiederaufbaujahre waren Bauten für die Gemeinschaft, Kirchen, Wohnungen, Schulen, Verwaltungsbauten, Bauten für Handel und Verkehr, Warenhäuser, Schwimmbäder, Kulturbauten, Tankstellen, Ausstellungs- und Verkaufspavillons.
Durch die Kriegszerstörung und den darauf folgenden Wiederaufbau der Städte machen die Bauten der 1950/60er Jahre in Deutschland naturgemäß einen erheblichen Teil des Gebäudebestands aus. Sie haben wesentlich zur Bildung der bundesdeutschen Großstädte beigetragen und mit ihren Spezifika und Stereotypen die Stadtbilder maßgeblich geprägt. Die Auseinandersetzung mit diesem Bestand wird nicht nur eine Hauptaufgabe der Bauwirtschaft (Bauen im Bestand), sondern auch der Denkmalpflege sein. Die gestalterischen Qualitäten der oben schon erwähnten charakteristischen Erscheinungsformen der Architektur der 1950/60er Jahre wurden lange Zeit nicht gesehen.
Die Architektur der ersten Nachkriegsjahre ist durch ökonomischen Druck in besonderem Maß bedroht. Viele Gebäude aus dieser Zeit müssen heute und in den kommenden Jahren grundlegend erneuert werden. Die zugehörigen Grundstücke versprechen durch ihre nicht selten attraktive Lage hohe Rendite und die Gebäude scheinen auf den ersten Blick manchmal von geringem materiellen und künstlerischen Wert, so dass die Abriss- und Veränderungsgefahr ohne genauere Prüfung des Bestands und der Erhaltungspotenziale besonders groß ist. Die oft unscheinbaren schlichten Gebäude scheinen sich den aktuellen „ästhetischen“ Gewohnheiten entgegenzustellen. Allzu schnell werden Wirtschaftlichkeitsüberlegungen über die im Grundsatz sehr bescheidenen Konzepte der Wiederaufbauzeit gestellt, um keine Rücksicht auf die gestalterischen Qualitäten dieser Architektur nehmen zu müssen. Insbesondere Fassadensanierungen nach unseren heutigen Auflagen verkraften die filigranen Fassaden oft nicht. Da sich die Wertschätzung für Bauten der späten Moderne in der breiten Öffentlichkeit erst langsam herausbildet, besteht die Gefahr, wertvolle Denkmale durch mangelnde Denkmalkenntnis zu verlieren. Um dem rasanten Verlust architektonischer Zeugnisse dieser Epoche entgegenzuwirken, haben sich vielerorts einzelne Initiativen - beispielhaft sei die von Architekten initiierte "baubar" in Saarbrücken genannt - gebildet, die mit Führungen, Kolloquien etc. auf das Thema aufmerksam machen, Konzepte der In-Wertsetzung solcher Bauten vorstellen und Perspektiven entwickeln.
Bewertungskriterien der Denkmalinventarisation
In den 1980er Jahren hat in der Fachöffentlichkeit eine Auseinandersetzung mit der Architektur und den urbanistischen Entwicklungen der 1950/60er Jahre begonnen. Seither ist das Wissen um die architektonischen und städtebaulichen Leistungen der Epoche kontinuierlich vorangeschritten und es sind vermehrt Einzeluntersuchungen zum Thema, regionale Studien sowie Erfahrungsberichte über den denkmalpflegerischen Umgang mit Bauten aus dieser Zeit in Fachzeitschriften erschienen. Auch die Denkmalpflege hat die Baukultur der 1960er Jahre inzwischen überblicksmäßig thematisiert. Viele Landesdenkmalämter betreiben eine systematische Nacherfassung von Objekten insbesondere der 1950/60er Jahre. Im Saarland wie auch in den anderen Bundesländern waren die Bauten der 1950er Jahre zuvor nur vereinzelt unter Schutz gestellt worden.
Mit der fortschreitenden architekturhistorischen Aufarbeitung gewinnt auch die Denkmalinventarisation allmählich differenziertere Kriterien für die Bewertung der baulichen Zeugnissen dieser Epoche, um festzustellen, welche Gebäude als Dokumente dieser Zeit kulturhistorische Bedeutung haben, die ein Erhaltungsinteresse der Allgemeinheit begründet. Der konservatorische Umgang mit der Architektur der Nachkriegszeit beinhaltet schließlich die Auseinandersetzung mit den zeittypischen neuen Baumaterialien und die Kenntnis zur Überwindung der sich daraus ergebenden spezifischen bautechnischen Probleme. Unabdingbar für einen Substanz schonenden Umgang mit den Bauten der Nachkriegsmoderne ist ein tieferes Verständnis für den Sinngehalt der Konzeptionen und damit der Zusammenhänge und Hintergründe ihrer Entstehung.
Da das Spektrum der Erscheinungsformen sehr breit und heterogen ist, ist eine Analyse und Kriterienbildung entsprechend schwierig. Es gilt, die verschiedenen Erfahrungs- und Bewertungsperspektiven, mit denen die Vielfalt der Nachkriegsarchitektur erfasst werden können, zu durchdringen. Da die Nachkriegsbauten in besonderer Weise Ausdruck und Sinnbild für gesellschaftliche Vorstellungen sind, müssen vor allem kulturgeschichtliche Phänomene und zeittypische Aspekte und Leitbilder wie technokratische Modernisierungserwartungen, Mobilität, (soziale) Optimierung, Funktionalität und Rationalisierung mit berücksichtigt werden.
Da viele interessante Objekte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht auf ihre Denkmalfähigkeit und Denkmalwürdigkeit geprüft worden sind, ist die Denkmalpflege oft damit konfrontiert, die eventuell vielschichtigen geschichtlichen, künstlerischen und städtebaulichen Qualitäten kurzfristig im Rahmen von Bauanträgen oder Veränderungsabsichten untersuchen zu müssen. Rasch muss dann eine fundierte fachliche Bewertung her, ob ein Objekt Denkmalwert besitzt. Nicht selten ist die Abrissbirne schneller, oder wird grundlegend in Bauten eingegriffen, bevor festgestellt werden kann, ob es sich um ein Kulturdenkmal handelte oder nicht.
Um jedoch ein "Profil der Epoche" anhand von repräsentativen Bauten und städtebaulichen Anlagen erstellen zu können, ist ein systematisches Vorgehen erforderlich. Eine wichtige Grundlage und Informationsquelle sind die zeitgenössischen Bauzeitschriften und regional orientierte Fachzeitschriften. Auch die gezielte Auswertung von ausgewählten Archivalien ist als Hintergrund für die Bewertung von Bauten, Siedlungen und stadtentwicklungspolitischen Entscheidungen notwendig. Da viele Bauten der 1950/60er Jahre inzwischen durch Umbauten und verschiedenste Eingriffe stark verändert sind, muss zudem überprüft werden, ob sie dadurch ihren Dokumentationswert verloren haben.
Durch Nachforschungen vor Ort, aber auch durch Ergebnisse bauhistorischer Forschungen ergeben sich Hinweise auf mögliche schützenswerte Objekte, welche durch das Raster der zeitgenössischen Bauzeitschriften gefallen sind. Die systematische Analyse der Bauten einer Zeitschicht soll zu einer typologisch geordneten Übersicht führen, um die für die einzelnen Bauaufgaben bedeutsamsten Objekte herausarbeiten zu können. Es sind dies Kirchen, Schulen, Hochschulen/Institute, Krankenhäuser, Verwaltungsgebäude, Bauten der Kultur, Bauten für Handel und Gewerbe, Wohnungsbau und technische Bauten. Topographische Begriffe wie Wiederaufbau, Stadtkerne und Erweiterungsgebiete (Siedlungen) sollten mit einfließen.
Architektur und Städtebau nach 1945 in Saarbrücken
Die unmittelbare Nachkriegszeit im Saarland thematisierte eine Ausstellung 1990 im Saarbrücker Schloß. Zu Architektur und Städtebau der Nachkriegszeit liegen für das Saarland und insbesondere Saarbrücken neben kleinen Artikeln in Bauzeitschriften einige wenige zeitgenössische Beiträge vor. Wissenschaftliche Beiträge sind vor allem im Kontext der Stadtgeschichtsschreibung und hier auch zum Thema Wiederaufbau erschienen. Eine Dokumentationsreihe des Instituts für Aktuelle Kunst trägt zur Erforschung der Kunst am Bau bei. Zahlreiche Bauten der 1950/60er Jahre im Saarland werden bereits in dem 1982 erschienen Architekturführer Saarland kurz erwähnt und 1998 auch im Architekturführer Saarbrücken kurz besprochen. Selten liegen Architektenmonografien vor.
Allein in Saarbrücken wurde durch den Bombenkrieg 1944 nahezu die gesamte Innenstadt (80% der Bausubstanz) zerstört. In den Jahren 1945-55, als das Saarland einen Sonderstatus hatte, entstand eine Neuplanung durch Georges Henri Pingusson unter der französischen Besatzungsmacht. Obwohl die Planung nicht realisiert wurde, war sie für die weitere städtebauliche Entwicklung Saarbrückens von Bedeutung. Ein Gestaltungsprinzip dieser Planung ist die Aufweitung des Straßenraums für den Autoverkehr. Die Fußwege wurden im Erdgeschossbereich der Häuser in so genannte Arkaden verlegt. Dieses "Arkadenmotiv" fand Eingang in den Bebauungsplan und prägt bis heute das Stadtbild. In dieser Zeit entstanden die Universität des Saarlandes und ein Messegelände. Die völlig zerstörte barocke Bebauung am Ludwigsplatz wurde wiederaufgebaut. Nach der politischen Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1957 entwickelte sich die Landeshauptstadt Saarbrücken zu einer Messe- und Kongress-Stadt mit allen notwendigen Funktionen und zentralen Einrichtungen für die Region. Im Zuge dieser Funktionserweiterung entstanden in den folgenden Jahren zahlreiche Neubauten wie die Stadtautobahn, neue Wohngebiete, Ministerien, Bauten der Verwaltung, Banken, Kaufhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Sport- und Freizeitstätten, der Deutsch-Französische-Garten, die Moderne Galerie, die Staatliche Hochschule für Musik, Kirchenbauten, Gewerbe- und Industriebauten sowie der Flughafenausbau. In dem Zeitraum zwischen 1959-69 fallen die Großsiedlungen auf dem Eschberg und einige Jahre später auf der Folsterhöhe, die Herausbildung der verkehrsgerechten Stadt mit großmaßstäblichen Eingriffen in die Stadtstruktur durch die Autobahnführung mit Wilhelm-Heinrich-Brücke, der Bau der Berliner Promenade am Saarufer, die Kongresshalle und das Winterbergkrankenhaus.
Das Landesdenkmalamt erfasst die Bauten dieser Nachkriegs-Epoche systematisch, analysiert ihre Besonderheiten und legt ihren Denkmalwert wissenschaftlich dar. Oft entsteht der Eindruck, der Denkmalschutzgedanke wäre leicht verhandelbar und ließe sich von vorneherein und nach Belieben und jeweiligen Planungsabsichten aus der Waagschale der öffentlichen Belange herausnehmen. Die fachlich Bewertung soll sicherstellen, dass das kulturelle Erbe der Nachkriegszeit in größtmöglicher Originalität überliefert werden kann.
Die hier skizzierte Vielfalt ist sehr gefährdet. Dem nach 1945 entstandenen baulichen Erbe kommt als Aufbauleistung der Jahre nach dem Krieg ein wichtiger Zeugnis-, manchmal ein Denkmalwert zu. Denkmale sind Geschichtszeugnisse – des Neuanfangs, des Aufbauwillens, des Wiederaufbaus, des Wirtschaftswunders, der Architekturgeschichte. Auch die jüngeren Dokumente der Geschichte verdienen unseren Respekt und unsere Aufmerksamkeit. Ausgangspunkt und Grundlage für eine verantwortungsvolle Entscheidung über die Zukunft des gebauten Kulturerbes der Nachkriegszeit ist eine sorgfältige Bestandsanalyse. Die Inventarisation definiert, was ein Denkmal ist und warum. Das Erfassen und fachliche Bewerten der Objekte ist die Voraussetzung dafür, qualitätvolle Einzelbauten und Ensembles, die es für die Zukunft zu bewahren gilt, nachhaltig zu schützen. Denn nur, wenn wir etwas über die Objekte wissen, können wir ein öffentliches Bewusstsein für ihre Bedeutung als Kulturdenkmal schaffen. Ohne dieses Wissen ist ein wirksamer Denkmalschutz auf die Dauer nicht möglich. In einem zweiten Schritt geht es dann um die notwendigen Maßnahmen zu ihrer Erhaltung, um einen Ressourcen schonenden Umgang mit dem Denkmal, seine behutsame Reparatur, Instandsetzung oder auch um die Entwicklung von denkmalgerechten Umnutzungskonzepten.
Sabine Schulte
Bibliografie (Auswahl)
Sabine Schulte
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