Linie und Licht, gebunden an die Farbe Weiß, sind die großen Themen der Kunst Leo Erbs. Schon früh fand er zu ihnen und blieb ihnen in unvergleichlicher Konsequenz ein Leben lang treu. "ein leben für die linie", "ein leben in weiß" oder „bei weiss muss man farbe bekennen" lauten Titel einiger seiner wichtigen Ausstellungen. Ein Hauptwerk, die 115-teilige Arbeit "vie et mort de la ligne" von 1968, artikuliert treffend Erbs künstlerische Intentionen und könnte als Motto über seinem gesamten Schaffen stehen. Dass Leo Erb bei der bewussten Reduzierung seiner Bildmittel ein solch beachtlicher Reichtum an schöpferischen Erfindungen gelang, beweist den hohen Rang seines Œuvres. Im Jahr 2008 wurde er dafür mit dem Kunstpreis des Saarlandes geehrt.
Seine künstlerische Ausbildung in Schriftgraphik und Schattenkonstruktion bei Joseph Wack an der Werkkunstschule Kaiserslautern von 1940 bis 1943 machte Erb mit Möglichkeiten linearer Gestaltung und mit Gesetzen von Licht und Schatten vertraut. Während seines Studiums an der Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken in den Jahren 1946 und 1947 lernte er bei Boris Kleint die Grundlagen ästhetischer Bildvorstellungen der Bauhaustradition kennen: materialgerechtes Arbeiten, Eigenwertigkeit der bildnerischen Mittel und Reflexion über deren Verwendung und Ausdruck. Durch persönliche Lebenserfahrungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg, die weiten Schneelandschaften Russlands im Winter 1942/43, die Einnebelungsaktionen der Leuna-Werke in den letzten Kriegsjahren und die aufgereihten Rebstöcke in den Weinbergen um das Gefangenenlager Bretzenheim nach 1945, war Erb mit der Farbe Weiß und der Linie, seinen Elementen, existenziell in Berührung gekommen. Ab 1947 wurden sie dann zu seinen fundamentalen schöpferischen Mitteln. Die Übereinstimmung von Erbs Schaffen mit Intentionen der Zero-Bewegung, eine Kunst aus Licht, Monochromie und Struktur zu schaffen, kann vor diesem Hintergrund nur als Bestätigung der eigenen, unabhängig herangereiften Ideen gesehen werden.
Der Titel der Kreidezeichnung "Weinberg bei Langenlonsheim" aus dem Jahr 1952, bei der Erb in den zarten grauen, violetten und braunen Kreidestrichen noch Buntfarben zulässt, gibt einen Hinweis darauf, dass eine in Felder und Reihen gegliederte Landschaft den Künstler zu seiner linear strukturierten Zeichnung inspirierte. Doch stellt dieser Bezug zum Gegenständlichen innerhalb Erbs paralleler Linienzeichnungen eine Ausnahme dar. In seinen seit 1947 entstandenen Papierschnitten sind die Bildmittel von Anfang an autonom. Schon ganz früh hat Erb die Linie zum absoluten Bildgegenstand erhoben, hat sie von ihrer dienenden Funktion befreit und aus Zusammenhängen gelöst, in denen sie anderen Gestaltungsmitteln gleichgestellt war. Diese Radikalität verblüfft selbst heute noch. Auch nach 60 Jahren haben Erbs Schöpfungen nichts von ihrer Aktualität verloren.
Von einigen frühen Arbeiten abgesehen beschränkt sich Erb in seinen Werken auf das Weiß als Farbe des Lichts und das lineare Schwarz als Farbe der Schatten. Buntfarben, wie sie etwa in den Holzarbeiten oder Rostdrucken vorkommen, sind nie als selbstständiges Element aufgetragen, sondern resultieren immer aus der Art der Verwendung der jeweiligen Materialien. In den Tuschezeichnungen der späten 50er und 60er Jahre sind die Hell-Dunkelkontraste und die Vehemenz des Ausdrucks auf ein Maximum gesteigert. Entweder ist die Tusche mit dem Pinsel in Form von Flecken, Punkten oder Strichen oder mit Hilfe von Imkerbürsten in breiten borstig gespaltenen Bahnen mit spontaner Dynamik aufs Papier gesetzt. Die Einzelteile formieren parallele Linien und damit eine regelmäßige Ordnung. Zugleich enthalten sie ein Höchstmaß an individueller Bewegungsenergie. Duktus und Kraft der zeichnenden Hand bestimmen den temperamentvollen Charakter dieser Blätter. Sie demonstrieren extreme Vitalität und leidenschaftliche Entschiedenheit.
Das spielerische Moment, das vielen dieser Tuschezeichnungen eigen ist, findet man auch in den mittels Holzstöckchen oder zylindrischen Holzstäben gefertigten Linienreliefs und den Kreide- sowie Graphitzeichnungen dieser Zeit. Sie basieren auf dem Wechsel zwischen kurzen und längeren Segmenten, die dem übergeordneten Horizontalverlauf mit geringen Abweichungen von der Geraden rhythmische Bewegungsimpulse verleihen. Eine Bildidee wird in verschiedenen Techniken und Ausformungen realisiert und so in der Bandbreite ihrer optischen Veränderungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Diese Methode wird Erb durch sein gesamtes Oeuvre hindurch beibehalten.
Die Linie ist stets Resultat eines zeitlichen Prozesses. Als Spur der sich bewegenden Hand des Künstlers wird sie in den statischen Arbeiten zum sichtbaren Bild eines fließenden Verlaufs. In Erbs kinetischen Kunstwerken der 60er und 70er Jahre bildet und wandelt sie sich mit Hilfe von Motoren ganz real. Ob bei dem rotierenden Scheibenobjekt von 1964/65, bei den kinetischen Türmen von 1968, dem Pendelobjekt mit Chromstahlstreifen von 1969, dem Objekt von 1969/70, bei dem gleitende Rollen hinter gespanntem Stoff lineare Spuren erzeugen, oder dem lichtkinetischen Objekt mit 38 Neonröhren von 1978: Immer befinden sich Linien in Bewegung und bewirken, dass die Licht- und Schattenverhältnisse permanent neue Formen hervorbringen und das räumliche Bild modifizieren.
Erbs Linien markieren niemals genormte Zäsuren, sondern sind, vor allem in den Zeichnungen, von sehr unmittelbarem, persönlichem, explizit handschriftlichem Charakter. Als energiegeladene Bahnen bringen sie ihr gesamtes Umfeld zum Pulsieren. Mit subtilem Gespür entlockt Leo Erb der Linie die unterschiedlichsten Wesensarten, lässt sie hart oder weich, kräftig oder zart, unergründlich dunkel oder lichtdurchtränkt, trennend oder verbindend, graphisch oder malerisch erscheinen. Beeindruckend ist die Vielfalt ausgefallener Materialien, die Erb einsetzt, und unkonventioneller Techniken, die er erfindet, um bestimmte Qualitäten von Linien und deren Zusammenschluss zu erzielen. Da kommen unter anderem handgeschöpftes Bütten, Holzlatten, Konfetti, Schaumgummi, Schnüre, Äste, Wolle, Watte, Vlies, Wellpappe oder ausgeblasene Eier zum Einsatz, da wird modelliert, gesägt, geschnitten, geschichtet oder durchlöchert: Erbs Einfallsreichtum erweist sich als schier unerschöpflich.
Den spezifischen Linientyp, den Erb für ein bestimmtes Werk festgelegt hat, wiederholt er in paralleler Reihung meist horizontal, aber auch gewinkelte und damit verbunden kurze senkrechte, manchmal auch schräge Verläufe kommen in bestimmten Werkgruppen häufig vor. In den Plastiken der 90er Jahre, wie z.B. in der großen Linienplastik von 1992 in Saarlouis-Fraulautern, wird die vertikale Ausrichtung der Parallelen zum eigenständigen Thema. In ihrer seriellen Anordnung strukturieren die Linien einerseits die Fläche, modellieren andererseits durch Verdichtung oder Weitung der Abstände auch die plastische Form, nicht nur in den ohnehin körperhaften Plastiken, Reliefs oder Prägungen. So kann der optische Eindruck konvexer Vorwölbungen selbst bei völlig planen Arbeiten entstehen. Auch eine Ausbildung unterschiedlich kompakter Blöcke durch systematischen Wechsel der Linienabstände, durch gezielte Zäsuren oder durch Überlagerung zweier Flächen in einem zentralen Linienkomplex sind für Erb Möglichkeiten, räumliche Verhältnisse allein mittels paralleler Linien zu differenzieren.
Neben der Linie misst Leo Erb in seiner Kunst dem Weiß absoluten Stellenwert bei. Dabei ist Weiß zugleich Farbe, Licht und Helligkeit, vereint in sich materielle und immaterielle Eigenschaften. Von allen Farben birgt das Weiß das breiteste Spektrum an Helligkeitsabstufungen und, wie Erb 2003 in einem Interview von Ulrike Lehmann betont, an Farbnuancen. "Es gibt keine Farbe, die farbiger ist als Weiß. Bei Weiß muss man Farbe bekennen. Ich fühle mich nirgendwo freier als im Weiß", sagt er. (In: leo erb. ein leben in weiß, S. 14). Das Licht beeinflusst faktisch die Helligkeits- und Farbwirkung der weißen Flächen und evoziert die in den linearen Bildstrukturen angelegten Schattensäume, lässt sie bei scharfen Kanten dunkler, tiefer, graphischer erscheinen und hebt bei faserigem oder gerissenem Material und aufgerauter Oberflächenstruktur ihre diffuse Qualität hervor. Erbs Augenmerk liegt immer auf der Seite des Lichtes, die dunklen Linien oder in ihren Grauwerten nuancierten Schattenzonen strukturieren lediglich als optischer Gegenpol die dominanten weißen Flächen.
Licht wurde von jeher als Symbol des Geistigen und des Göttlichen interpretiert. Die stille, weiße Weite der Werke Leo Erbs trägt die Offenheit intellektueller Spielräume in sich, die der Künstler zurecht mit der Dimension der Freiheit in Verbindung brachte. In ähnlicher Weise ist die Linie als geistiges Konstrukt Ausdruck von grenzenloser Ausdehnung und eines gleichmäßigen meditativen Fließens. Durch die Überschneidung der Bildränder wird sie als Ausschnitt eines unendlichen Verlaufs in Raum und Zeit charakterisiert. Bei den vertikal strukturierten Plastiken lenken die Linien den Blick von der Basis ausgehend dynamisch nach oben über sich hinaus in die Endlosigkeit des Universums – ein Akt der Befreiung. Grunderfahrungen menschlicher Orientierung im Raum und in der Zeit, Liegen und Stehen, Ruhen und Aufrichten, Dauer und Vergänglichkeit, Erdverbundenheit und das Bestreben, ins Unerreichbare und Autonome auszubrechen, Bindung und Freiheit, sind Kerngedanken von Erbs elementaren Linienordnungen.
Besonders in den Zeichnungen Leo Erbs bleibt die Nähe zur Schrift unverkennbar und wird in einigen Arbeiten mit Titeln wie "Liebesbrief" (1968), "Linienschrift" (Kreide, 1971 und 1975) oder "Liniengedicht" (1977) vom Künstler auch explizit genannt. Charakteristische Merkmale der Handschrift wie eine wellenartige Linienführung, die Ausbildung von Oberlängen und zusätzlich ein gleichmäßiger, relativ weiter Zeilenabstand verleihen diesen Linienbildern die Beschaffenheit eines Manuskriptes. Wie bei Schriftdokumenten enden bei fast allen Blättern dieser Gruppe die Linien innerhalb des Blattes. Doch anders als bei Texten sind Erbs lineare Reihungen völlig frei von jedem semantischen Gehalt. Gleichwohl ver-dichten sie sich, einem Gedicht als Werk komprimierter Sprache vergleichbar, Zeile für Zeile zu einem Sinngebilde. Unabhängig von diesen formalen Übereinstimmungen ist die Kunst Leo Erbs in ihrem mit Worten kaum zu beschreibenden schöpferischen Zartgefühl grundsätzlich poetisch. Erb selbst schätzt die Poesie als unabdingbar für die Kunst ein. "Ich bin für das Systematische, aber mit Poesie oder mit Philosophie. Das Systematische ohne Poesie ist keine Kunst." (In: leo erb. ein leben in weiß, S. 11).
In den späten Arbeiten nach 2000, wie in dem "Linienbild" in Acryl auf Leinwand von 2004, greift Erb das Prinzip alternierender Sequenzen des Frühwerks wieder auf, steigert jedoch die Dynamik durch kontinuierliche Verdichtung der einzelnen Segmente von links nach rechts zu einer flutenden, rhythmisch gegliederten Gesamtbewegung mit immer wieder neu einsetzenden und fortlaufend anschwellenden Kompartimenten. In den einzelnen "Zeilen" verschieben sich die Höhepunkte der größten Farb- und Lichtintensität ähnlich der Geschwindigkeitsdifferenz sich ablösender Läufer bei einer Staffel. Die dazwischenliegenden Bahnen, in denen die naturfarbene Leinwand zu sehen ist, bieten den mit wachsendem Tempo sich entwickelnden Linienabschnitten einen neutralen Grund. Nach einer sehr langen Phase des Gleichmaßes und der Zurückhaltung kehrt im Alterswerk der Drang nach Aktivität und Entfaltung von Kraft unverkennbar zurück.
So absolut Erbs Arbeiten in der Reduktion ihrer bildnerischen Gestaltungsmittel und der Einhaltung einer logischen Struktur auch sind, so ambivalent und offen erweisen sie sich zugleich. Die Linien sind einerseits Aussparungen des bis auf ganz wenige Ausnahmen weißen Bildgrundes, andererseits das Ergebnis aufgetragenen Materials oder von Einschnitten in die Oberfläche. Sie können malerische Wirkungen bis hin zu intensiv stofflichen, samtigen oder wattigen Erscheinungsformen hervorbringen oder aber hart und graphisch anmuten. Gewinkelte oder getreppte Linienverläufe können irritierende plastische Effekte auslösen und ein Volumen suggerieren, das in Wirklichkeit gar nicht gegeben ist. Erbs Bilder bergen immer mehr als ein schneller Blick vermuten lässt.
Was bei Erb anfangs vielleicht als bewusste Absetzung vom Mainstream der informellen Malerei begann, lädt in seiner Zurücknahme auf wenige, wesentliche Qualitäten noch und gerade in der heutigen Zeit einer unablässigen Reiz- und Sinnesüberflutung ein zu meditativer Einkehr und Besinnung. Hohe Sensibilität ist erforderlich, um das Sublime dieser Kunstwerke zu erfassen. Der Akt der Annäherung kommt, wie es Manfred Schneckenburger in diversen Zusammenhängen so treffend formulierte, einem "optischen Lauschen" nahe. Leo Erb benennt "das Meditative" und "das Sichtbarmachen der Stille" als Hauptanliegen all seiner Werke und präzisiert diese Aussage folgendermaßen: "Die Ich-Findung kann meines Erachtens nur in dem anonymen Raum, das heißt im ästhetischen Raum, im weißen Raum, stattfinden, in dem nicht das Geringste tönt, welcherart Tönen auch immer, auch optisches Tönen. Diese Ich-Findung kann nur in der absoluten Stille vor sich gehen." (In: Hans Jürgen Buderer: Kinetische Kunst. Worms 1992, S. 205.)
Leo Erb widersetzte sich mit seinem Schaffen sein Leben lang konsequent gängigen Kunsttrends. Mit seinen Werken bricht er aus gewohnten Denkmustern auf in neue intellektuelle Dimensionen. Seine durchdachte Entscheidung zur Genügsamkeit und Konzentration der Bildmittel, sein Verzicht auf unnötige, überflüssige Elemente schafft die bildliche Basis für eine innere Ausgeglichenheit, für Offenheit und Freiheit. So sind Erbs Werke über ihren ästhetischen Wert hinaus immer auch Anreiz zur Reflexion, nicht zuletzt über sich selbst.
Petra Wilhelmy
Redaktion: Petra Wilhelmy, Samira Gross
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