1. Geschichte der evangelischen Kirchengemeinde St. Wendel:
Erst mit einem kurfürstlichen Duldungserlass Anfang des 18. Jh. und nach einer kurfürstlichen Verfügung von 1779 war es Andersgläubigen, also auch Protestanten, erlaubt, sich innerhalb der noch kurtrierischen Stadt St. Wendel anzusiedeln und die Bürgerrechte zu erwerben und zu genießen, gerade einmal 10 Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution. Nachdem St. Wendel durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses (Konferenz aller europäischen Mächte, Neuaufteilung) an Herzog Ernst I. von Sachsen-Coburg-Saalfeld gefallen war und 1819 als neues Coburgisches Territorium den Namen "Fürstenthum Lichtenberg" (wo die "Lappländer am Hunsrücken" lebten (Max Müller, S.207)) erhielt, kam eine größere Zuwanderung lutherischer Beamten aus Sachsen und Thüringen nach St. Wendel. Von der Coburgischen Provinzialregierung wurde den Protestanten ein Betraum im Sitzungssaal des Regierungsgebäudes, des heutigen Rathauses 1, für ihre Gottesdienste zur Verfügung gestellt. Durch eine herzogliche Kabinettsorder entstand am 3. Juni 1825 durch die Vereinigung der beiden protestantischen Bekenntnisse, des lutherischen, das die Coburger mitbrachten und des reformierten in der hiesigen Pfarrei Niederlinxweiler, eine selbständige protestantisch-evangelische Pfarrei zu St. Wendel. Ihr erster Pfarrer wurde Karl Juch, den die von ihrem Gatten 1824 hierher in die Verbannung geschickte Herzogin Luise von Sachsen-Coburg-Saalfeld (Altenburg) als Hofprediger aus Gotha mitbrachte und der auch hier am neu gegründeten Lyceum Konrektor war. Mit Herzogin Luise kamen erneut protestantische Beamten und Bedienstete, ein ganzer Hofstaat, nach St. Wendel und auch erstmals der Gedanke an den Bau einer evangelischen Kirche, da die Gemeinde im Jahre 1830 bereits auf 214 Mitglieder angewachsen war und der Betsaal im Regierungsgebäude für die stetig wachsende Gemeinde zu klein wurde.
2. Entstehung der evangelischen Kirche:
Erst mit der Einführung von Pfarrer Friedrich Wilhelm Moerchen, am 15. April 1838, Herzogin Luise war längst tot und das Herzogtum Liechtenberg war seit 1834 an Preußen verkauft, wurde der Kirchenbau in Angriff genommen. Nach langen Verhandlungen wegen der Finanzierung und nach eines unmittelbar an den preußischen König Friedrich Wilhem III. gerichteten Gesuchs am 13. Mai 1839 zur finanziellen Mithilfe beim Bau des Gotteshauses, machte erst ein Gnadengeschenk des Königs Friedrich Wilhelm IV. 1841 als Gründungsgeschenk die Finanzierung möglich. Nach langen Vorarbeiten wie der Suche nach einem geeigneten Bauplatz, der Gestaltung der Baupläne und Fundamentierung sowie der Vergabe der Gewerke war der Baubeginn im August 1843, die Grundsteinlegung am 26. April 1844 und die Einweihung fand am 31. Oktober 1845 statt. Die Bauleitung des für 400 Personen geplanten Kirchenbaus wurde Kommunalbaumeister Leonhard aus St. Wendel übertragen. Eine Bauzeichnung von 1840 im Archiv der evangelischen Kirchengemeinde zeigt einen Entwurf der Nordseite der Kirche, der noch sehr stark vom später ausgeführten Plan abweicht. Er beschreibt einen Rechteckbau mit nur drei großen Fensterachsen, einer eingezogenen Rundapsis im Osten und einem hohem Satteldach sowie einem nach Westen abgerückten, im gleichen Stil und in gleichen Proportionen erbauten, viergeschossigen Turm, der mittels einer mit Rundbögen geöffneten Vorhalle mit dem Kirchenbau verbunden ist. Diese Bauzeichnung wurde jedoch vom Regierungsbaurat Eduard Adolf Nobiling revidiert, der "... 5 Fenster von kleinerer Dimension in jeder Längsseite und eine durchlaufende Fensterbank..." vorsieht. Den ausgeführten Außenbau gliedern ein den gesamten Kirchenbau umfangendes Kranzgesims sowie ein Solbankgesims in halber Höhe, auf dem fünf klassizistisch gestaltete Fenster mit profilierten Rundbögen mit einem sie verbindenden Kämpfergesims aufsitzen. Der unter Kommunalbaumeister Leonhard ausgeführte Kirchenbau mit seinem klassizistischen, flach gedeckten Turm zeigt viel Vergleichbares mit der kurz zuvor, 1836-38, von Leonhard erbauten evangelischen Kirche Grumbach am Glan, die noch dazu wie die St. Wendeler Kirche durch eine Spende des Preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. mitfinanziert wurde. Der frühere saarländische Landeskonservator Martin Klewitz vermutete seinerzeit in der Trierer Basilika (1844-56), ebenfalls gerade vom Preußischen König als evangelische Garnisonskirche errichtet, ein Vorbild für die St. Wendeler Stadtpfarrkirche.
Ungenügende und unzuverlässige Fundamentierungsarbeiten am Bau, so dass der Turm einzustürzen drohte und Feuchtigkeit von unten ins Kircheninnere eindrang, hätten fast dazu geführt, das ganze Gebäude wieder abzureißen. Unter der neuen Bauleitung des Kreisbaumeisters Mathias J. Mußweiler wurde 1863/1864 neben umfangreichen Renovierungsarbeiten nur der alte klassizistische Turm durch den heutigen, schmal proportionierten, neoromanischen Turm in Sichtmauerwerk ersetzt, der in seiner heutigen Form mit Uhrgeschoss und spitzem Schieferhelm wiederum aus der Zeit um 1895 stammt. Eine Bauzeichnung von 1909 im Archiv der evangelischen Kirchengemeinde zeigt die Außenansicht der Südseite der Kirche. Der Turmbau ist durch Gesimse in vier unterschiedlich hohe Geschosse gegliedert. Der untere zwei Geschosse bergende Teil, mit jeweils einer Achse aus zwei kleinen Fenstern gegliedert, entspricht der um ein Geschoss erhöhten Vorhalle, sein Gesims verläuft auf gleicher Höhe mit dem Kranzgesims am Kirchenbau. Ein quadratisches Geschoss darüber enthält rundbogige Fensteröffnungen. Im hochrechteckigen Geschoss darüber befinden sich die Schallöffnungen, große zweiteilige, quer unterteilte Rundbögen unter gemeinsamem Bogen im Rundbogenstil des Historismus. Ein niedriges oberstes Geschoss trägt nach drei Seiten die Zifferblätter der Kirchturmuhr.
Im Zuge der Renovierungsarbeiten in den 1950er Jahren, 1951-53, wurden unter Pfarrer Ernst Seynsche die Eingangshalle durch die beiden zweiflügeligen mit ornamentiertem Kupferblech überzogenen Holzportale geschlossen und das schon lange geplante Gemeindehaus an den südöstlichen Teil der Südfassade der Kirche angebaut. Für die perfekte Lösung dieses Anbaus war der Saarbrücker Architekt Prof. Rudolf Krüger verantwortlich. Er bildet im Bedarfsfall beim Öffnen der Falttüren eine Erweiterung des Kirchensaals im rechten Winkel mit Blick auf den Altar. Beim Schließen der Türen sind zwei Räume getrennt nutzbar. Der etwas erhöhte Raum direkt neben dem Kirchensaal kann als Bühne genutzt werden. Von ihm aus hat man Zutritt zu einer kleinen Sakristei und einem Abstellraum. Südlich an den Anbau schließt ein Querbau an, der neben den Wirtschaftsräumen wie Keller, komfortabler Küche und Toiletten zusätzliche Gruppenräume und eine kleine Wohnung im Dachgeschoss enthält.
3. Der Innenraum der Kirche:
Beim Innenraum handelt es sich um einen rechteckigen Saal mit eingezogener Halbrundapsis im Osten. Das äußere Solbankgesims wiederholt seinen Verlauf auch im Innern und teilt die Wand in zwei Geschosse. Es umläuft das Innere der Apsis und ist Auflager des Apsisbogens. Die untere Hälfte der Seitenwände und die Ostwand bleiben ungegliedert. Nur die Apsis wird durch flache Pilaster in fünf Segmente eingeteilt. Den oberen Bereich der Seitenwände erhellen jeweils fünf Rundbogenfenster mit ihren in Blautönen schimmernden bleiverglasten Scheiben. Alte Innenansichten verdeutlichen, dass im Verlauf von 170 Jahren seit der Einweihung sich einiges im Innenraum veränderte. So zeigt eine Bauzeichnung von 1842 die Kanzel mit einem der jetzigen Kanzel ähnlich gegliederten Korb auf einem Fuß, an der Ostwand rechts neben der Apsis. Die jetzige Kanzel steht seit der ersten Renovierung der Kirche im Jahre 1863/64 an der linken Seite des Saales zwischen den beiden vorderen Fenstern. Ihr reich verzierter Schalldeckel mit Sternenhimmel sitzt in Höhe des Solbankgesimses auf Konsolen. Der Kanzelkorb ist mit römischen Ziffern datiert ins Jahr 1864 und mit einer Bibelstelle (1. Petri 1,25 "... aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit.") beschriftet. Er steht nicht wie üblich auf einem Fuß oder einer Konsole, sondern auf einem Gebilde aus vier Pfeilern über quadratischem Sockel, die durch Rundarkaden verbunden und an den Ecken von korinthischen Dreiviertelsäulen besetzt sind. Dieser Aufbau ist vergleichbar mit der korinthischen Ordnung des dreiteiligen Gebälks einer griechischen Tempelarchitektur. Die korinthischen Säulen des Unterbaus tragen den Kanzelkorb wie ein Tempelgebälk, das sich zusammensetzt aus dem drei Faszien-Architrav (der Teil zwischen Arkaden und Kanzelkorb), einem Fries (hier gebildet von den rundbogigen Blendarkaden des Kanzelkorbes) und einem Kranzgesims, das auch hier aus klassischen Motiven wie Kymation, Eierstab oder Flechtband besteht. Die Kanzel ist bis jetzt ein geheimnisvolles Kuriosum geblieben. Sie ist entstanden nach einer Zeichnung des Ministerialbaurates (oder Geheimen Oberbaurat) und Architekten des Preußischen Königs, des Schinkel-Schülers Friedrich August Stüler aus Berlin, und von einem St. Wendeler Bildhauer namens Johannes Demuth danach ausgeführt. Vergleichbare Kanzeln lassen sich bis jetzt nirgends finden, jedoch vergleichbare Motive in anderen evangelischen Kirchenbauten bzw. Profanbauten, die mit finanzieller Unterstützung des Preußischen Königs und dessem Geheimen Oberbaurat Friedrich August Stüler errichtet wurden (vgl. insbesondere den hölzernen Taufständer in der ev. Kirche Ladbergen/Kreis Steinfurt in NRW, vergleiche auch das Belvedere auf dem Pfingstberg in Potsdam, 1847-63).
Ein weiteres Archivbild der Kirchengemeinde zeigt das Kircheninnere aus der Zeit vor der großen Renovierung 1987/88, bei der die 1909 an die Wand zurückversetzte Orgel, wie auf dem Bild zu sehen ist, wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückgebracht wurde. Das 1864 von den Brüdern Stumm aus Rhaunen-Sulzbach erbaute Instrument wurde 1988 von der Orgelbaufirma Peter Vier aus Friesenheim-Oberweiher im Hauptwerk rekonstruiert und wieder in die Emporenbrüstung eingebaut. Unter der Bauleitung des St. Wendeler Architekten Leonhard Baureis wurde danach die Saaldecke durch Anbringen von profilierten Zierleisten in eine Kassettendecke umgestaltet und die Holzvertäfelung in der Sockelzone der Wände entfernt.
4. Kunst im sakralen Raum:
Seit 1993 und 1998 sind die ungegliederten Wände des Kirchensaales künstlerisch gestaltet. Die Künstlerin und langjährige Presbyterin Elfi Pazen aus Tholey fertigte 1993 aus Keramikröhren, die sie in der 400 Jahre alten japanischen Art der Keramikherstellung, der Raku-Technik, bearbeitete, das Kreuz in der Apsis, und später auch den Ambo auf der Altarinsel und die drei Kerzenleuchter auf dem Altar. Die Keramikröhren sind bewusst aufgebrochen gefertigt oder auch beim Brennen zerbrochen und lassen so diesen bruchstückhaften, zerbrochenen, gebrochenen, zerbrechlichen Eindruck entstehen, den die Künstlerin in einem Gedicht so bezeichnend beschreibt. In Zusammenarbeit mit Hans Schneider aus Tholey gruppierte die Künstlerin die Röhren auf einem doppelten Eisengerüst zum Kreuz. Es schmückt das mittlere Apsisfeld und wirft je nach Farbigkeit der indirekten Beleuchtung der Apsis farbige Schatten. Ambo und Kerzenleuchter entstanden ebenfalls in Zusammenarbeit mit Hans Schneider, der die Eisengestelle auch für diese Keramikröhren fertigte. Im Gedicht von Elfi Pazen heißt es: Verletzlichkeit Schmerzen Narben/ Hoffnung Heilung Vergessen// Schwärze Bruchstücke Zerbrochenes Gebrochenes Unruhe Unordnung Chaos - zu einem Ganzen Starken Friedvollen Ruhigen Harmonischen/ Ungleiches zur Einheit gefügt// Bruchstücke Risse Löcher - Verletzungen Brandgeruch stumpf - Tod Angst Trauer Verzweiflung/ Feuermale Flammenspuren Farben schillernd - Freude Begeisterung Hoffnung Zukunft// Eisen Gerüst gerade Linien miteinander verbunden geben Halt innere Festigkeit Stärke/ fangen das Schwache auf halten das Zerbrechliche/ bewahren es vor dem Fall// Elfi Pazen
Im Rahmen einer Ausstellung 1997 in der Stadtkirche wurde ein Bilderzyklus der Freisener Künstlerin Isabelle Federkeil gezeigt. Zehn großformatige Bilder in Mischtechnik zieren seitdem die bis dahin kahlen Erdgeschosswände des Saales. Sie wurden zum Teil von der Kirchengemeinde nach und nach angekauft, zum Teil auch von Gemeindegliedern gestiftet. Mit einem von ihr selbst entwickelten Verfahren, einer Mischtechnik aus Fotografien, deren vergrößerte Farbfotokopien auf ein Trägermaterial übertragen und abschließend mit farblosem Wachs überzogen wurden, verbindet Isabelle Federkeil Architektur und Formen der ausklingenden Gotik mit jenen des beginnenden Industriezeitalters. "Beide Zeitalter verbindet ein sich gravierend verändertes Welt- und Menschenbild (...). Die Gotik (...) wurde auch (...) als goldenes sozialistisches Zeitalter der Kunsthandwerker vor der einsetzenden Industrialisierung angesehen", wie die Künstlerin argumentiert. Federkeil arbeitet mit Motiven wie Menschen, Arbeiterinnen in verschlissener Kleidung, Arbeiter mit ihren Werkzeugen in Verbindung mit Röhren, Formen der Industriearchitektur sowie gotischem Maßwerk, Formen der gotischen Architektur. In der Apsis rahmen zwei Bilder mit Ausschnitten von Röhren das von Elfi Pazen gefertigte Kreuz aus gebrannten Keramikröhren. Die Industrieformen, die zum Teil an gotisches Maßwerk erinnern, schmiegen sich sehr harmonisch an die schwarzgebrannten Röhren des Kreuzes. Die beiden Bilder rechts und links der Apsis zeigen Menschen, Arbeiter und Arbeiterinnen in Sepiabraun, was wiederum dem Raumanstrich des Kirchensaales sehr schmeichelt. An den seitlichen Wänden hängen jeweils drei Bilder als Triptychons kombiniert, links wie rechts rahmen jeweils zwei Bilder mit gotischen Architektur- und Maßwerkformen der früheren Pariser Palastkapelle Sainte-Chapelle nachempfunden ein mittleres Bild mit Details von Arbeiterhänden, einmal Hüttenarbeiterhände mit Hammer und dem Schriftzug ora et labora, zum anderen Bergmannshände mit Grubenlampe. Gerhard Koepke, 1999-2010 Superintendent des Kirchenkreises Saar-Ost und langjähriger Gemeindpfarrer der evangelischen Kirchengemeinde St. Wendel, interpretiert die Bilder als gelungene Kombination der beiden an Erfindungen und Neuerungen reichen Zeitalter sowie als Wiederspiegelung der Hütten- und Bergarbeitergeschichte des Saarlandes. Die dauerhafte Ausstellung der Bilder in der Stadtkirche ist für ihn auch ein Bekenntnis der Kirchengemeinde zur Geschichte und den Menschen in der Region. (Blauer Kirchenführer, S. 58-59)
Margarete Wagner-Grill
Quelle:
Redaktion Margarete Wagner-Grill
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