Beteiligte Architekten und Ingenieure:
Jean-François Guédy (1908-1995), Architekt
André Nejavits-Méry (1917-?), Architekt
Bernard Laffaille (1900-1955), Ingenieur, Tragwerksplaner, Mitglied in der Gruppe „Espace“
René Sarger (1917-1988), Architekt, Tragwerksplaner
Ou Tseng, Ingenieur
Eugène Freyssinet (1879-1962), Ingenieur
Hans Karwat (1917-2009), Ingenieur, Firma Saarbauindustrie
Das ehemalige Sendezentrum des französischen, privaten Langwellensenders Europe 1 – ein Bau der französischen Nachkriegsmoderne
Als Frankreich nach 1945 das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem etablierte, wichen kommerziell betriebene, französisch-sprachige Radiosender in kleine Nachbarländer aus. Angesichts seiner geografischen Lage und seines damaligen politischen Sonderstatus’, bot sich das Saarland als geradezu idealer Standort für einen kommerziellen Langwellensender an. 1954/55 entstand auf dem Saargau, unmittelbar an der Grenze zu Frankreich, ein Sendezentrum, mit dessen Bau die beteiligten Bauherren, Architekten und Ingenieure bis an die Grenzen des damals Machbaren gingen. In dem Gebäude der großen Sendehalle des „Centre d’émetteur de l’Europe 1“ paart sich innovative Technik mit traditionellem Kunsthandwerk. Entstanden ist eine spannungsreiche Gebäudeplastik – rundum transparent, mit einem Boden aus hellem, farbigem Mosaik und einem dunklen Hängedach aus Spannbeton: ein außergewöhnliches Zeugnis französischer Nachkriegsmoderne, ein leider immer noch zu wenig bekannten Kunstort.
Lage
Nahezu in der Mitte zwischen dem saarländischen, deutschen Ort Felsberg und dem lothringischen, französischen Ort Berviller-en-Moselle steht – gerade noch auf Beruser Bann – das ehemalige Übertragungszentrum des französischen Privatsenders „Europe 1“. Abgeschieden, außerhalb der Ortslage, umgeben von Wiesen und Feldern, erhebt sich eine raumplastische, gläserne, ja fast sakral wirkende Halle mit expressivem Turm und zwei niedrigen, eleganten Nebengebäuden, die in die architektonische Gesamtkomposition einbezogen sind. (Vier hohe Sendemaste, die bereits aus weiter Ferne sichtbar waren und wie Landmarken wahrgenommen wurden, sind im Oktober 2020 gesprengt worden.) Die geografische Lage auf einer Hochfläche westlich der Saar, auf einer Muschelkalkstufe, die zwischen Berus und Felsberg verläuft, und auf der dortigen höchsten Erhebung, dem Sauberg (vgl. Landesvermessungsamt 1974), war ideal für die Anlage eines Langwellensenders. Von diesem Standort aus konnte das Programm ganz Frankreich und über das Mittelmehr hinaus auch die französische Einflusssphäre Nordwestafrika erreichen. Während die von Muschelkalk geprägte, spärlich bewaldete Landschaft nach Osten steil in das Tal der Saar abfällt, gleitet sie nach Westen als Teil des lothringischen Stufenlandes allmählich in Richtung Pariser Becken ab. Zudem ermöglichte das weiträumige, fast ebene Grundstück die Verlegung eines waagerechten Erdnetzes als Gegenpol zum Antennennetz und somit eine Verstärkung der Sendeleistung (Interview Melcior – Stahl, in: Resonanzen Band 2, in Vorbereitung). Neben den geografischen Gegebenheiten waren auch die politischen Verhältnisse dazu angetan, an dieser Stelle, nur wenige hundert Meter von der Grenze zu Frankreich entfernt, eine private Rundfunk- und Fernsehstation aufzubauen, die das staatliche Monopol unterlief. Hatte Frankreich doch nach 1945 das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem etabliert, woraufhin privat betriebene Radiosender in kleine Nachbarländer wie Monaco oder Andorra auswichen – und eben auch in das Saarland, das damals, 1954/55, ein teilautonomer Staat war.
Forschungsstand
Bisher ist viel über die hochwertigen, technischen Einrichtungen des Senders und seine kontinuierliche Optimierung zu einem der weltweit leistungsstärksten Langwellensender geschrieben worden (zuletzt ausführlich Ludwig 2016). Auch die damaligen politischen und juristischen Rahmenbedingungen, die zur Wahl des Standortes führten, und das Kuriosum, dass von hier aus auch für kurze Zeit ein saarländisches privates Fernsehen gesendet wurde, werden in einschlägigen Publikationen über die Sendeanlage Europe 1 beschrieben – sowohl in Printmedien als auch zunehmend im Internet (zuletzt ausführlich Hinsberger/Reitnauer 2015). Ein weiterer Aspekt, der in den Veröffentlichungen breiten Raum einnimmt, betrifft die enormen Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung des Architektenentwurfs, der die Sendehalle als komplexes Bauwerk mit einem sich bewegt und weit ausbreitenden Betondach projektiert hatte. Die Ausführung des vorgesehenen dünnen Hängedachs in der Form eines hyperbolischen Paraboloids hatte „ausgesprochenen Pioniercharakter“ und gelang nur mit Hilfe mehrerer erfahrener Ingenieure und nach einem Fehlversuch (zuletzt ausführlich Böcker/Schreiber 2016).
1999 unter Denkmalschutz gestellt, geriet vor einigen Jahren die Senderhalle erneut in das Gesichtsfeld der Denkmalpflege: 2016 übernahm die Gemeinde Überherrn die inzwischen stillgelegte Anlage. Seither begleitet die saarländische Denkmalpflege die Suche nach einem tragfähigen Konzept für eine künftige Nutzung von Grundstück und Gebäuden. Beauftragt von der Gemeinde Überherrn entwickelte 2017 bis 2019 das in Cottbus, Saarbrücken und Wrocław ansässige Institut für Neue Industriekultur (INIK GmbH) in Kooperation mit dem Berliner Büro Lorenz & Co. Bauingenieure (seit 2018 Fischer & Co. Bauingenieure) ein Nutzungs- und Sanierungskonzept inklusive Baudokumentation und Bauforschung (inik.eu). Im Europäischen Kulturerbe-Jahr 2018 wurde unter Federführung des Denkmalpflegers Axel Böcker die Sendehalle in den saarländischen Beitrag „Resonanzen – Die langen Wellen der Utopie“ einbezogen: als Veranstaltungsort und Thema des internationalen Workshops „Grenzgänger – Vom Umgang mit leichten Schalenwerken“ (ausgerichtet von der Gesellschaft für Bautechnikgeschichte und dem Landesdenkmalamt des Saarlandes) sowie als einem von fünf Teilbereichen innerhalb der in Saarbrücken gezeigten Ausstellung „Resonanzen – Architektur im Aufbruch zu Europa 1945-1965“ (Sender Europe 1 / Émetteur Europe 1, 2019). Ein Ergebnisband, der die aktuellen Forschungen zu diesem Kapitel der Ausstellung zusammenfasst, ist in Vorbereitung (Stand 10. März 2020).
Bei allen bisher publizierten Beiträgen zum Sender Europe 1 blieb ein originärer Bestandteil der Halle unberücksichtigt: das farbige Fußbodenmosaik. Bei der folgenden Betrachtung des Bauwerks gehört daher diesem baugebundenen Teil besondere Aufmerksamkeit. Ferner soll der Zusammenhang des gesamten Bauwerks mit vor allem in Frankreich aktiven architektonischen und künstlerischen Strömungen der Nachkriegszeit erörtert werden.
Baugeschichte
Bauherrin der Sendeanlage Europe 1 war die private Rundfunkgesellschaft Télé Monte Carlo (TMC) mit Sitz in Monaco, bzw. die Holdinggesellschaft Images et Sons, in die auch die Société Sarroise de Télévison eingruppiert war (memotransfront.uni-saarland.de). Hauptaktionäre von Images et Sons waren Fürst Rainier von Monaco (1923-2005) und Charles Michelson (1900-1970). Mit dem Entwurf für die Sendehalle wurde der Pariser Architekt Jean-François Guédy (1908-1995) beauftragt, ein Absolvent der École des Beaux-Arts. Als Assistent unterstützte ihn der aus Ungarn stammende Architekt André Nejavits-Méry (1917-?). Auf Anregung der Bauherren lag dem Ausführungsentwurf die Form einer Jakobsmuschel zugrunde, die Charles Michelson und Louis Merlin (1901-1976), der spätere erste Programmdirektor von Europe 1, bei einem Gang über die Gaulandschaft bei Berus als versteinertes Exemplar im Muschelkalk gefunden hatten. Diese Art der Kammmuschel hat eine Schale mit strahlenförmigen Rippen und zwei links und rechts symmetrisch abstehenden eckigen „Ohren“. Guédy nahm den Umriss der Muschel zur Vorlage für den Grundriss der Sendehalle mit den beiden flachen Anbauten. Der Verlauf der Rippen auf der Muschelschale dürfte die Ausrichtung des Gebäudekomplexes inspiriert haben: Er wurde dergestalt gedreht, dass die (gedachten) Rippen in jene Richtung „strahlen“, in der die Mehrzahl der zu erreichenden Hörer von Radio Europe 1 leben: nach Frankreich. Nordöstlich der Sendehalle – Richtung Saarland – fand der freistehende Fernsehturm der Société Sarroise de Télévision seinen Platz.
Planungen und Beginn der Bauarbeiten fallen in das Jahr 1954, Tag der Grundsteinlegung war der 15. Juni 1954. Zur Realisierung des außergewöhnlichen Daches musste ein erfahrener Ingenieur hinzugezogen werden: Bernard Laffaille (1900-1955), zusammen mit seinem langjährigen Mitarbeiter, dem Architekten und Ingenieur René Sarger (1917-1988). Als weiterer Ingenieur ist Hans Karwat (1917-2009) von der ausführenden Firma Saarbauindustrie zu nennen. Probleme bei der Schalung des Daches riefen einen nächsten Ingenieur auf den Plan: Eugène Freyssinet (1879-1962), dem es nach irreparablen Rissbildungen in der Dachhaut schließlich doch gelang, das Dach und damit die bauliche Anlage in der von Guédy entworfenen Form zu retten und im Laufe des Jahres 1955 zu vollenden.
Baubeschreibung
Der Zugang zu dem umzäunten Gelände des Senders liegt an der Landstraße L 351. Von dort führt eine gerade, leicht ansteigende Allee mittig auf das Zentrum der Sendeanlage, die große Halle, zu. Doch bevor die Zufahrt das transparente Gebäude erreicht, gabelt sie sich, umfährt die Sendehalle und den freistehenden Fernsehturm und endet bei den rückwärtig angegliederten „Ohren“ und weiteren Nebengebäuden. Kurz nach der Gabelung zweigt von dem rechten Zufahrtsstrang eine kleine, nur für Fußgänger bestimmte Zuwegung ab, führt aufwärts über mehrere Treppenstufen auf eine Brücke, die ein organisch geformtes Wasserbecken überspannt, und kommt schließlich am Eingang zur Halle an. Für Irritation sorgt die Tatsache, dass der Zugang nicht – wie durch die Ausrichtung der Allee zunächst vermutet – in der Mitte des Gebäudes liegt, die überdies durch die Symmetrieachse, das nach beiden Seiten aufsteigende Dach und das große Betonelement in Form eines umgedrehten V mehrfach bezeichnet ist. Stattdessen gewährt rechts der Mitte eine unauffällige Glastüre den Zutritt zur Halle.
Die Sendehalle über dem beschriebenen muschelförmigen Grundriss misst 82,5 x 43,5 m. Auf einem niedrigen Sockel aufstehende, in regelmäßigem Abstand angeordnete schmale Stahlstützen und die zwischen ihnen eingespannten, gerasterten Fenster bilden die umlaufende transparente Außenwand. Über die Symmetrieachse sind die beiden niedrigsten Punkte der Halle verbunden, sie messen an der Vorderseite 9,50 m und an der Rückseite 4,25 m, während die beiden Seiten zur maximalen Höhe von jeweils 16,25 m aufsteigen. Von der Eingangsseite aus ist von dem Hängedach nur die Unterseite zu sehen, die dunkel durch die transparente Außenwand schimmert und wie ein weit aufgespanntes Flügelpaar erscheint.
An der Rückseite der Sendehalle schließen als „Ohren“ der „Jakobsmuschel“ zwei niedrige, elegant geschwungene und flach gedeckte Gebäude an, in denen Büros und Sozialräume untergebracht sind. Weit auskragende Gewände fassen jeweils die Fenster zu einem Band zusammen und betonen die Eleganz beider Bauwerke.
In geringem Abstand zur Sendehalle und den beiden originalen Anbauten ist der Fernsehturm angeordnet. Wie die Halle ist auch dieses Bauwerk in seiner optischen Wirkung auf Plastizität bei gleichzeitiger Transparenz und Leichtigkeit angelegt. Drei spitz am Boden ansetzende und nach oben wieder spitz zulaufende „säbelbeinige“ Betonpfeiler nähern sich an, entfernen sich wieder voneinander und tragen schließlich gemeinsam die Plattform für die Antennenaufbauten. Urheber des Fernsehturms war wohl ein Mitarbeiter von Bernard Laffaille, der Ingenieur Ou Tseng.
Fußbodenmosaik
Der progressiven Architektur der Sendehalle aus Glas, Stahl und Beton antwortet im Innenraum ein Fußbodenbild, das nach einem offensichtlich künstlerischen Entwurf in traditioneller handwerklicher Manier ausgeführt wurde: ein in wildem Verband verlegtes Splittermosaik. Es zeigt in einem grauen, von einem umlaufenden roten Rand gerahmten Fond eine abstrakte Komposition, die auf die im Raum verteilten Technikblöcke und Pflanzbeete Rücksicht nimmt. Die Ausführung erfolgte nach dem Einbau der technischen Anlagen. Mündlicher Überlieferung zufolge, haben die Mitarbeiter des Senders die Arbeiten des Mosaikverlegens ausgeführt (Hinweis von Axel Böcker).
Auf dem grauen Grund zeichnen sich farbige Bänder, Stränge und Felder ab. Zumeist ziehen sie in verschiedenen, langen Wellenformationen durch den weiten Raum, wählen gelegentlich aber auch mal einen geraden Verlauf und enden manchmal unvermittelt. Wie zufällig hingefallene Schnipsel setzen vereinzelte Dreiecke und Vierecke Akzente auf der weiten Fläche. Der Farbkanon beschränkt sich neben dem grundierenden Grau auf ein dominierendes, gedämpftes Gelb, begleitet von Rot, Blau und Weiß. Mal dehnen sich die parallel laufenden Farbspuren aus, mal verengen sie sich wieder, breitet sich dort das Gelb zu einem Feld aus oder rollen sich hier schmale Bänder aller vier Farben zu einer Schneckenform zusammen. Die verschiedenen Formationen und ihre Art, sich über die Fläche zu bewegen, erwecken vage Assoziationen an Langwellen, Bodenwellen, Schallwellen oder Lichtwellen, an Magnetbänder, Spulen oder Schaltpläne oder auch an die Hörschnecke des menschlichen Innenohrs – abstrakte Zeichen als Andeutungen für die Übertragung von Schall und Licht durch Wellen. Zugleich weisen die an- und abschwellenden Farbspuren Wege in der Weite des Innenraums, bieten Haltepunkte, geben Orientierung. Das animierte Spiel der Formen und Farben auf dem Fußboden kontrastiert die konsequente, starre Fensterrasterung der Außenwand und die im Ingenieurbüro mathematisch berechnete Dachform. In der Sendehalle von Radio-Télévision Europe N° 1 trifft die Sprache des Architekten und des Ingenieurs auf die Sprache des Bildenden Künstlers, und aus dieser Verbindung entsteht ein einzigartiger Raumeindruck.
Zusätzlich steigert das von Außen eindringende Licht die großartige Raumwirkung der Sendehalle. Der geometrische Schattenwurf, den die gerasterte, klare Rundumverglasung im Laufe des Tages durch den Innenraum ziehen lässt, legt sich als sichtbare Struktur über das Bodenmosaik. Der wandernde Sonnenstand und das wechselnde Wetter verändern ständig das Bild der sich überlagernden Ebenen.
Das Material für das Bodenmosaik dürfte die Firma Villeroy & Boch aus dem nicht weit entfernten Mettlach/Saar geliefert haben. Zum Zeitpunkt der Errichtung des Sendezentrums Europe 1 gehörte das für seine keramischen Produkte weltweit bekannt Unternehmen – wie auch die bauausführende Firma Saarbauindustrie – zum gemeinsamen französisch-saarländischen Wirtschaftsraum. Villeroy & Boch produzierte speziell in den Nachkriegsjahren strapazierfähiges Mosaik aus unglasiertem, handgeschlagenem Steinzeug (Mazurkiewicz-Wonn 2019).
Es konnte bisher nicht geklärt werden, wer den Entwurf für das Fußbodenmosaik gefertigt hat. Im Bereich des Möglichen ist, dass ein Bildender Künstler (oder eine Bildende Künstlerin) aus einer der Kunstströmungen, die sich in Fortsetzung oder Weiterentwicklung der Moderne der Vorkriegszeit gebildet hatten, beauftragt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg bei Künstlern und Architekten das Interesse an verschiedenen Bereichen der angewandten Kunst. Neben den mobilen Tapisserien für die Innenwände erfreuten sich baugebundene künstlerische Medien wie Sgraffiti, Betonfenster oder Mosaike zunehmender Beliebtheit. Entworfen und ausgeführt wurden sowohl bildhafte als auch abstrakte Darstellungen. Beide Möglichkeiten konnten aber auch zusammen in einem Objekt vorkommen.
Der Urheber des Fußbodenmosaiks könnte beispielsweise in der Gruppe „Espace“ oder ihrem Umkreis zu finden sein. Direkte Verbindungsperson zu dieser künstlerischen Strömung ist der Ingenieur Bernard Laffaille, den Jean-François Guédy zur Realisierung seines Entwurfs für die Sendehalle hinzugezogen hat. Laffaille gehörte zu den Unterzeichnern des 1951 publizierten Manifests der Gruppe, war ihr Schatzmeister und zeigte 1955 bei einer von „Espace“ realisierten Ausstellung ein Modell der Sendehalle Europe 1.
Exkurs: Die Gruppe „Espace“
Im Jahr 1951, während der Phase des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg von André Bloc (1896-1966) und Félix Del Marle (1889-1952) initiiert, fanden sich in dem „pulsierenden Kunstzentrum Paris“ Architekten, Ingenieure und Bildende Künstler – Maler, Bildhauer, Plastiker – zu einer Gruppe zusammen, die sich den Namen „Espace“ (Raum) gab. Anfangs in Frankreich beheimatet, bildeten sich bald auch „Espace“-Gruppen in Belgien, der Schweiz, Italien, England und Finnland. Fernand Léger, Sonia Delaunay-Terk und Victor Vasarely dürften die heute bekanntesten Vertreter der Vereinigung sein. Das Interesse an der Mitarbeit war so groß, dass sich der Vorstand schon bald nach Gründung veranlasst sah, die Mitgliederzahl zu begrenzen. Sprachrohr der Gruppe „Espace“ war die von André Bloc herausgegebene Zeitschrift „Art d’aujourd’hui“. Das gemeinsame Anliegen war, die Architektur mit den abstrakten bildenden Künsten – Plastik, Skulptur, Malerei – auf neue, soziale Weise zu verbinden und neue Ausdrucksformen für die neue (Nachkriegs-)Gesellschaft zu finden. Voraussetzung für die Zusammenarbeit war der Dialog zwischen den Beteiligten, dessen Förderung das Hauptanliegen der Gruppe „Espace“ war.
Im Manifest der Gruppe „Espace“ empfehlen die Unterzeichner
„Un art non-figuratif…
Un Art qui s'inscrive dans l'Espace réel, réponde aux nécessités fonctionnelles et à tous les besoins de l'Homme, des plus simples au plus élevés.
Un Art soucieux des conditions de vie, privée et collective, un Art essentiel même à l'homme le moins attiré par les valeurs esthétiques
Un Art constructif qui, par d'effectives réalisations, participe à une action directe avec la communauté humaine.
Un Art devenu spatial par la pénétration sensible et modulée de la lumière dans l'oeuvre, un Art dont la conception et l'exécution s'appuient sur la simultanéité des aspects dans les trois dimensions non suggérées, mais tangibles.
Un Art où la Couleur et la Forme sont indissolublement liées par leurs qualités intrinsèques et architecturales dans une expression idéale de rapports et de proportions.“
„Eine nicht-gegenständliche Kunst...
Eine Kunst, die in den realen Raum passt, die funktionale Bedürfnisse und alle Bedürfnisse des Menschen erfüllt, von den einfachsten bis zu den anspruchsvollsten.
Eine Kunst, die sich mit den privaten und kollektiven Lebensbedingungen beschäftigt, eine Kunst, die auch für den Menschen wesentlich ist, der am wenigsten von ästhetischen Werten angezogen wird.
Eine konstruktive Kunst, die durch effektive Ausführung am direkten Handeln mit der menschlichen Gemeinschaft teilnimmt.
Eine Kunst, die durch das sensible und modulierte Eindringen von Licht in das Werk räumlich geworden ist, eine Kunst, deren Konzeption und Ausführung auf der Gleichzeitigkeit von Aspekten in den drei Dimensionen beruht, die nicht angedeutet, sondern greifbar sind.
Eine Kunst, in der Farbe und Form durch ihre innewohnenden und architektonischen Qualitäten untrennbar miteinander verbunden sind und einen idealen Ausdruck von Beziehungen und Proportionen bilden.“ (Übersetzung O. Dimmig)
In den wenigen Jahren ihres Bestehens realisierte „Espace“ zwei große Ausstellungen: 1954 in Biot an der Côte d’Azur und 1955 im Park von Saint Cloud bei Paris. Außerdem bot der bereits 1946 gegründete Salon des Réalités nouvelles der Gruppe Ausstellungmöglichkeiten in Paris. Wie bereits erwähnt, war in der „Espace“-Ausstellung 1955 das Modell der Sendezentrale Europe 1 zu sehen (Groupe Espace 2009, S. 26). Einige Mitglieder der Gruppe beteiligten sich zudem an der Ausstellung „Kunst 1955, Architektur, Malerei, Skulptur, Musik“, die im selben Jahr im Saarlandmuseum Saarbrücken stattfand und als eine Art „Synthese der heutigen Kunst“ verstanden werden wollte (Kunst 1955, S. 3). Wie im Ausstellungskatalog vermerkt, wurden „Photographische Vergrößerungen“ vom „Antennenmast der Television Europe II Saarbrücken“ von Jean-François Guédy und André Nejavits-Méry gezeigt (Kunst 1955, S. 11). Da die aufgeführten Fotos im Katalog nicht abgebildet sind, kann nicht entschieden werden, ob es sich um einen Irrtum in der Beschriftung handelt und möglicherweise der Sender Europe 1 gemeint war. Denkbar ist aber auch, dass der erwähnte „Antennenmast der Television Europe II Saarbrücken“ im Zusammenhang mit (nicht realisierten) Plänen zur Errichtung einer Rundfunkanstalt auf dem Winterberg in Saarbrücken steht. Drei Skizzen zu „Studios für Fernsehen, Musik und Hörspiel“ in Pavillonbauweise wurden 1953 ohne Nennung des Urhebers veröffentlicht (Bau-Anzeiger 1953). Eines der skizzierten Gebäude für den Saarbrücker Rundfunk zeigt Verwandtschaft zur Sendehalle Europe 1 in Berus.
Berührungspunkte zwischen den Architekten und Ingenieuren der Sendehalle Europe 1 und Mitgliedern der Gruppe „Espace“ waren also in mehrfacher Hinsicht vorhanden.
Vergleichsbeispiele
Die grundsätzliche Idee, das repräsentative Hauptstück des Sendezentrums als rundum verglaste Halle mit Mosaikboden zu gestalten, mag nicht zuletzt auch durch das Vorbild des Konkurrenzsenders Radio Luxemburg angeregt worden sein. Die private, 1931 gegründete Compagnie Luxembourgeoise de Radiodiffusion hatte in den 1930er Jahren die Villa Louvigny in Luxemburg Stadt für ihre Zwecke modernisiert und Aufnahmestudios und Senderäume eingerichtet. Damals entstand an der Gartenseite die sogenannte Rotunde, ein flacher, großenteils verglaster Anbau im damals avantgardistischen Stil des Bauhauses. Im Eingangsbereich der Rotunde stellte ein kunstvoll verlegtes Bodenmosaik die luxemburgischen Kantonalwappen dar, im Außenbereich konnte sich das gläserne Bauwerk in einem Wasserbecken spiegeln (May 2014).
Zwanzig Jahre später setzten die Bauherren des ebenfalls privaten, dank technischen Fortschritts jetzt kombinierten Radio- und Fernsehsenders Europe 1 und ihr Architekt ein weitaus spektakuläreres transparentes Bauwerk mit Bodenmosaik und Wasserbecken in Szene, beschritten dabei neue künstlerische Wege und gingen bis an die Grenze des technisch-statisch Machbaren. Letzteres betraf die Konstruktion des Daches, entworfen vom Architekt Guédy, ermöglicht durch den Ingenieur Laffaille mit seinem Mitarbeiter Sarger und schließlich umgesetzt vom Ingenieur Freyssinet. Die außergewöhnliche Dachform der Sendehalle Europe 1 in Form eines hyperbolischen Paraboloiden – in französischen Architekurbetrachtungen oftmals als „la selle de cheval“ (Pferdesattel) bezeichnet – fand auch Anwendung bei zwei sakralen Bauwerken, die fast zeitgleich in Frankreich entstanden.
Das erste Beispiel ist die 1954 geplante und 1955-58 gebaute katholische Pfarrkirche Notre-Dame in Royan (Charente-Maritime) (notre-dame-de-royan.com). Die am Atlantik gelegene Stadt wurde nach ihrer fast völligen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg auf verändertem Grundriss neu errichtet. Als Architekt für die Hauptkirche Notre-Dame wurde Guillaume Gillet (1912-1987) berufen, der sie zusammen mit den Ingenieuren Bernard Laffaille, René Sarger und Ou Tseng realisierte. Es entstand ein sakrales Bauwerk aus Stahlbeton und sehr hohen und sehr schmalen, farbigen Betonglasfenster, das nicht zuletzt durch seine das Stadtbild beherrschende Dimension an die etwas früher entstandene Kirche Saint-Joseph in Le Havre erinnert, einem spektakulären Bauwerk von Auguste Perret (1874-1954), dem Meister des Stahlbetonbaus. Mit der Sendehalle Europe 1 vergleichbar ist bei der Royaner Kirche die Form des Spannbetondaches, das mit den Maßen 45 m Länge und 22 m Breite jedoch deutlich kleiner ist als die sich zu extremer Weite ausdehnende Dachschale des Beruser Bauwerks.
Hingegen erscheint die Kirche von Notre-Dame-de-la-Paix in Villeparisis (Seine-et-Marne) in der Kontur ihres Schiffes und mit dem freistehenden Glockenturm beinahe als sakrales Pendant zur profanen Sendehalle mit dem ebenfalls freistehenden Fernsehturm. 1954-1958 zeitlich parallel entworfen und ausgeführt, steht Notre-Dame-de-la-Paix für die Zusammenarbeit des Architekten Maurice Novarina (1907-2002) mit den Ingenieuren Bernard Laffaille und Ou Tseng (notre-dame-villeparisis.ouvaton.org). Der von einem Stahlbetonhängedach in „Pferdesattel-Form“ gedeckte Kirchenraum fällt vom Eingang – er befindet sich an einer der schmalen Seiten – bis zur Mitte des Raumes ab und steigt von dort in Richtung Chorraum wieder an. Das Spannbetondach, das nicht von der Außenwand getragen wird, ruht auf zwei großen Betonstützen in Form eines umgedrehten V. Dieses Motiv wird, wie bei der Beruser Sendehalle, als blickfangender Akzent eingesetzt. Jedoch ist in deutlichem Unterschied zur rundumverglasten Sendehalle die Außenwand der Kirche aus Mauerwerk gearbeitet, in welches farbig verglaste Fenster unterschiedlicher Größe und Formen eingelassen sind.
Axel Böcker und Ruppert Schreiber weisen in ihrem Beitrag auch auf das „inhaltliche wie architektonische Gegenmodell zur Sendehalle in Berus“ hin: die Maison de la Radio in Paris des staatlichen französischen Rundfunks RTF. Die Planungen von Henry Bernard (1912-1994), der den 1952 ausgelobten Wettbewerb für diesen Baukomplex gewonnen hatte, „waren seit 1953 in zahlreichen Fachzeitschriften veröffentlicht worden. Dort, in Paris, also nun das Vorhaben eines öffentlich-rechtlichen Baus, zweckmäßig, aufgrund des Stadtlärms introvertiert und abgeschottet, mit einem regelhaften Grundriss und klaren Formen. Und in Berus das Gegenteil: die freie Form als Architektur in verschwenderischer Großartigkeit, ringsum transparent und offen, eigentlich einladend, und inmitten stadtferner Wiesen und Äcker. Wohl nur selten sind zwei im Ansatz eigentlich vergleichbare Aufgaben in den 1950er Jahren so radikal unterschiedlich gelöst worden.“(Böcker/Schreiber, Denkmalpflege 2016, S. 75-75; Saar-Geschichten 2016, S. 17).
Die Sendehalle – eine lichtdurchflutete Plastik, eine „cathédrale des ondes“.
Mit der Sendehalle Europe 1 in Berus wurde ein architektonisches Kunstwerk geschaffen, dessen Merkmale auf eine mögliche Verbindung mit der Gruppe „Espace“ deuten. Zugleich lässt sich in dem Ensemble aber auch noch die klassische französische Ausbildung der École des Beaux-Arts erkennen, die der Architekt Jean-François Guédy durchlaufen hatte. Zu letztgenanntem Aspekt zählen die erhöhte Lage des Bauwerks, die „barocke“, als Allee gestaltete, ansteigende Zufahrtsachse, das Wasserbecken im Grün vor der Hauptfassade sowie die Symmetrie von Grundriss und Vorderansicht. Die Abweichungen vom klassischen Ideal, nämlich der aus der Mitte gerückte Haupteingang ebenso wie das asymmetrisch, organisch geformte Wasserbecken und die ungleich langen Anbauten an der Rückseite, dürfen als bewusst gesetzte Akzente und Irritationen verbucht werden, oder als „eine Kunst, die in den realen Raum passt, die funktionale Bedürfnisse und alle Bedürfnisse des Menschen erfüllt, von den einfachsten bis zu den anspruchsvollsten“, wie es im Manifest von „Espace“ heißt.
Der Grundriss im Umriss einer Muschel, der Aufriss, der einer Transversalwelle gleicht, und das Dach in Form eines hyperbolischen Paraboloids verbinden sich zu einer architektonischen Raumplastik, die dank der Verknüpfung von Bauherrenidee, gewagtem Architektenentwurf und fortgeschrittener Ingenieurskunst umgesetzt werden konnte. Mit der Rundumverglasung entstand ein transparenter Körper, in den Licht von außen eindringen und aus dessen Innerem Licht nach außen scheinen kann. Unwillkürlich denkt man an die Diaphanie gotischer Bauwerke. Sicher nicht zufällig sprach der erste Programmdirektor von Europe 1, Louis Merlin, von einer „cathédrale des ondes“ (Kathedrale der Wellen), eine Vorstellung, die in den jüngsten Veröffentlichungen über die Beruser Sendehalle wieder aufgegriffen wird (Böcker/Schreiber 2016).
Mit dem Spiel von eindringendem und ausfallendem Licht wird ein für gotische Kathedralen charakteristischer Effekt aufgenommen und zugleich ins Gegenteil gewendet. Bei den mittelalterlichen sakralen Bauwerken dringt das Licht tagsüber durch die von Maßwerk gefassten farbigen Fensterbilder und belebt die monochromen steinernen Architekturglieder des Innenraums mit bunten Effekten. Des Nachts und bei Innenbeleuchtung erscheinen die Fenster als farbige Bilder in der Dunkelheit des städtischen Außenraums. Bei dem profanen Gebäude Sendehalle fallen die Sonnenstrahlen durch die klaren Fensterscheiben der Rasterfassade und beleuchten in dem wandlosen Raum den farbig durchwirkten Fußboden, während nachts die von Kunstlicht erhellte Halle als einsame, monochrome Leuchtquelle in die dunkle Landschaft strahlt.
Der Begriff der „cathédrale des ondes“ spricht aber auch die wellenförmige Kontur des Hallengebäudes an, die Motive auf dem Fußbodenmosaik und die Funktion als Sendezentrale von Radiowellen. Und ganz im Sinne einer „architecture parlante“ kann der Grundriss der „Kathedrale der Wellen“ Auskunft geben über ihren Standort im Muschelkalk des Saargaus.
Die Zusammenarbeit von Architekt, Ingenieur und Künstler, das Zusammengehen von innovativer Technik und traditionellem Kunst-Handwerk ermöglichten eine nie zuvor gesehene Gebäudeplastik. Die Qualitäten der architektonischen Materialien von Stahlbeton, Metall und Fensterglas, aus denen das Bauwerk konstruiert ist, verbinden sich mit den künstlerischen Qualitäten des abstrakten, farbenfrohen Fußbodenmosaiks zu einem spannungsreichen Ganzen. Architektur, Plastik und Malerei, Transparenz und Farbe gehen eine Liaison ein, wie sie den Gründern der Gruppe „Espace“ vorgeschwebt haben dürfte. Und der ebenfalls im „Espace“-Manifest formulierte soziale Anspruch manifestiert sich nicht zuletzt in den zwei großen Beeten, die ergänzend zu den Technikblöcken ursprünglich angelegt waren. Inmitten der beständig beschallten und vibrierenden Sendehalle sorgten die Grünpflanzen für einen natürlichen Ausgleich (Interview Melcior – Stahl, in: Resonanzen Band 2, in Vorbereitung).
Die Halle des privaten französischen Senders Europe 1 in Berus gehört zu den Gebäuden, die im Saarland von jener Epoche Zeugnis ablegen, in der Bauherren, Architekten, Ingenieure, Bildende Künstler und Kunsthandwerker im kreativen Dialog miteinander neue Wege beschritten. Diese nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem fortschrittlichen, französischen Einfluss entstandenen Kunstorte zu betrachten, weiter zu erforschen und einem größeren Publikum näher zu bringen – dazu möchte diese Untersuchung einen Beitrag leisten.
Oranna Dimmig
Literatur (Auswahl)
Internet (Auswahl)
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je Kunstwerk | 50 € | 30 € | 80 € |
Für alle Entleiher gilt: