Die Kunst von Anne-Marie Stöhr entfaltet sich frei im interdisziplinären Raum. Als Zeichnerin, Malerin, mit ihren Installationen und Performances sowie als Autorin schafft sie parallel mehrere Werkstränge in verschiedenen Kunstsparten. Verbindende Elemente ihrer spartenübergreifenden Kunstproduktion sind der virtuose Einsatz ihrer künstlerischen Mittel, die Geschwindigkeit und Leichtigkeit ihrer Kunstproduktion, die Sicherheit ihres Duktus und die Präzision der linearen, maltechnischen, koloristischen und sprachlichen Umsetzung ihrer Ideen sowie deren ursprüngliche Verfertigung in Zeichnungen und Texten. Dabei ist eine der Voraussetzungen ihrer Kunstproduktion ihre sprachliche Sensibilität und Universalität. Stöhr ist dazu in der Lage, sich gleichermaßen der schwedischen, französischen, englischen und deutschen Sprache zu bedienen.
Ausgebildet wurde sie zuerst als Malerin an der Dômen Konstskola in Göteborg bei Tullan Fink. Hier traf ihre Fähigkeit, sich in einzigartig zarten, expressiven figürlichen Konstellationen zeichnerisch und malerisch auszudrücken, auf ihr koloristisches Interesse, das sie in der Auseinandersetzung mit den „Göteborgskoloristen“ und den Werken der Malerinnen und Maler Helene Scherfbjeck (1862-1946), Vera Nilsson (1888-1979) und Johan Erland Cullberg (1931-2012) zur Entfaltung brachte. Ebenso wichtig wie die Auseinandersetzung mit historischer und traditioneller Malerei war für sie in ihrer Göteborger Zeit die Auseinandersetzung mit der Kunst der feministischen Malerinnen Maria Lindberg (*1958) und Helene Billgren (*1952).
1992 wechselte Anne-Marie Stöhr für fünf Jahre an die Hochschule der Bildenden Künste Saar in Saarbrücken, um bei Bodo Baumgarten (*1940) Malerei und bei Ulrike Rosenbach (*1943) Performancekunst zu studieren. Obwohl zunächst andere Medien im Vordergrund der Lehre standen, fokussierte Stöhr weiterhin ihre sprachlich-zeichnerisch-koloristisch fundamentierte Arbeitsweise. Während eines sechsmonatigen Austauschstipendiums des deutsch-französischen Jugendwerks an der École Supérieure des Arts Décoratifs in Straßburg begann sie 1997 ihre Werkserie der Schwefelarbeiten, für die sie eine neue Maltechnik entwickelte. Der toxische gelbfarbene Schwefelstaub, den sie auf ihre Malflächen aufbrachte, verleiht ihren Gemälden eine Aura der Gefährlichkeit und Intangibilität. Jede Berührung würde die porös-staubige Oberflächenstruktur der Pigmente verändern und zugleich eine Kontamination der Haut des Betrachters mit dem giftigen Farbmaterial verursachen: So schuf Stöhr Gemälde, die sich mit der Titulierung ihrer Identität als Schwefelarbeiten selbst vor der Annäherung durch den Betrachter schützen.
In den nass aufgetragenen Schwefel zeichnete und schrieb sie mit Zeichenkohle in strack und heftig geführten Linien Motive und Texte ein, die im Schutz der wehrhaften Aura des Schwefels eine zeitlos schlimme Geschichte in anklagenden Varianten erzählen, die von Drangsal, Folter, bedrohten und sich wehrenden Mädchen und Frauen handelt. Mit der Reihe „Schwefelige Poeme“ erlangte sie noch während ihrer Studienzeit große Aufmerksamkeit.
Als Mitbegründerin des Künstlerkollektivs „Kunstmanöver“ stellte Anne-Marie Stöhr 1996 bis 1998 ihre Arbeiten in den Ausstellungen der Gruppe aus, kuratierte und organisierte darüber hinaus Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Im Jahr 1998 zog sie in die Stadt Kaiserslautern und widmete sich von da an für 15 Jahre ganz der Zeichnung und Malerei mit Tusche. Es entstanden filigrane, zarte und expressive Zeichnungen, die menschliches Denken, Fühlen und Kommunizieren in der visuellen Wahrnehmung erspüren lassen. In dünnen, kurvig-eleganten schwarzen Umrisslinien werden Gesichtsausdrücke, Blicke, Gedanken, Gesten und Haltungen in Mikronuancen präzisiert, oft ergänzt durch Gedanken- und Sprechblasen mit aquarellähnlichen indigoblauen Tuschverläufen im Innern. Sie erscheinen wie Wasser oder Nebel auf dem Blatt, in deren Atmosphäre sich Hoffnungen, Ängste, Ideen und Perspektiven aus dem Immateriellen zu formen beginnen. Auch großformatige Tuschmalereien entstanden, die dem Konzentrat Indigo-Weiß-Schwarz eine ausladende Farbigkeit z.B. in Orange und Grün gegenüberstellen.
Nach einer Künstlerresidenz und zweiwöchiger Zeichen-Performance im Saarländischen Künstlerhaus Saarbrücken verlagerte Stöhr im Jahr 2002 ihren Wohnort nach Kalifornien, wo sie Unterstützung durch Bruno Mauro und seinen Projektraum „Ampersand International Arts“ in San Francisco erhielt. Daraus resultierte eine Teilnahme an der Gruppenausstellung „Emerge“ in der historischen Münzprägeanstalt in San Francisco mit der Installation ihrer großformatigen Zeichnung „The Corporate Smile“ und ihrer Animation „Frauenrolle Rückwärts“. Als Artist in Residence im Kala Art Institute in Berkeley wurde Anne-Marie Stöhr zusammen mit Nora Pauwels und Livia Stein zur Gestaltung der Ausstellung „Drawn Together by Line“ eingeladen, für die sie eine Wandzeichnung anfertigte. 2006 folgte eine Ausstellung in der Patricia Sweetow Gallery in San Francisco.
Ein Umzug nach Point Reyes in Kalifornien im Jahr 2007 führte zu einer neuen Annäherung der Künstlerin an das Element Wasser. Sie lernte surfen und die intensiven Naturerlebnisse auf dem Meer führten zur Fokussierung einer neuen Wahrnehmung auch in ihrer Malerei. Es entstanden in einer spezifisch von Anne-Marie Stöhr entwickelten Technik hochverdünnter, naß in naß geschwind aufgetragener Tuschmalerei großformatige, liquide, quirlig und verwirbelt erscheinende Verläufe in Indigo, die das Prinzip des Flüssigen, lebendig Fließenden des Wassers auf puristische, ursprüngliche Weise hervorbringen.
Während des Stanford Electrical Music Festivals 2010 gestaltete Anne-Marie Stöhr gemeinsam mit Dan Harder, Dichter, und Max Matthews, Erfinder der Stimm-Modulatoren und der Stimme von Stanley Kubrick „HAL“ im Film „2001: Odyssee im Weltraum“, eine spartenübergreifende Performance. Während der Dichter seine Poeme rezitierte, wurde seine Stimme von Max Matthews moduliert und Anne-Marie Stöhr zeichnete beidhändig. Gleichzeitig wurde ihre entstehende Zeichnung auf eine Leinwand projiziert. Beim Performance-Event „Micromanagement“ im Performance Art Institute in San Francisco 2011, das vom Künstlerpaar Fletcher-Reichert kuratiert wurde, trug sie den performartiven Vortrag „Icons on the Couch“ vor, bei dem sie als „Unreliable Narrator“ gefakte Krankheitsdiagnosen berühmter Persönlichkeiten verkündete.
Seit 2014 schafft Anne-Marie Stöhr wieder Gemälde auf Leinwand und malerische Rauminstallationen, die 2018 auch in Europa zu sehen waren. In der Ausstellung „Album Amicorum“ in der Galerie de la Médiathèque in Forbach, Frankreich, präsentierte sie neben phantasievoll-ornamentalen Zeichnungen mit Blumenmotiven und poetischen Textelementen ihre neue Werkserie der „Neon-Indigos“, die seit 2017 entsteht: Hybride Zusammenfügungen von großformatigen, wie gebändigtes Wasser erscheinenden Tuschmalereien auf krass-weißem Yupo-Papier mit kristallin erscheinenden neonfarbigen Motiven in der Form rätselhaft befremdlicher, komplexer geometrischer Körper. Als Künstler-Kuratorin konzipierte und realisierte sie 2018 die Ausstellung „Thinking Structure“ im Buck Institute for Research on Aging in Kalifornien in einem Gebäude des Architekten Ieoh Ming Pei (1917-2019).
Nach 17 Jahren Aufenthalt in Kalifornien kam Stöhr im Jahr 2019 nach Europa zurück. Ihre Heimkehr nach Saarbrücken war für sie mit dem Beginn einer neuen Schaffensphase verbunden. Binnen zwei Jahren entstanden über 50 großformatige Gemälde auf Leinwand und farbige Malereien auf Papier.
Die neue Malerei von Anne-Marie Stöhr entfaltet sich aus der Zeichnung in vielfarbigen, teils wie überbordend dichten linearen Farbstrukturen – z.B. gitterförmige oder an Webmuster erinnernde Streifenkonstellationen, zirkuläre oder kurvenförmige Bahnen. Sie evozieren den Eindruck eines dreidimensionalen Bildraums, in dem einzelne Lineamente hervortreten und andere sich in der Tiefe entfalten, ohne dabei in den Hintergrund zu geraten. In allen Bildern zeigt sich ein gleichberechtigtes Nebeneinander, das allen Farbbahnen dieselben Geltungsrechte auf der Fläche einräumt. Die Farben Schwarz und Indigo nehmen einen raumgreifenden Stellenwert zwischen leuchtenden Farbbahnen ein. Aus den Räumen zwischen dem Hellen scheinen sie hervorzuquellen oder sich in einer Art amöbenhaften Wachstums auszubreiten, das eine andere, abgründige Seite des Kolorits hervorbringt. In der Wahrnehmung entsteht das Bild einer Kanalisierung von wilder Ursprünglichkeit und Lebendigkeit teils interferierender diverser Farben, die im dichten Miteinander ihre Geltung auf der Fläche erlangen.
Parallel zu ihrer künstlerischen Arbeit bringt sich Anne-Marie Stöhr auch als Kuratorin und Ausstellungsmacherin in den deutschen Kunstbetrieb ein. Für das Saarländische Künstlerhaus Saarbrücken, dessen stellvertretende Vorsitzende sie seit 2022 ist, realisierte sie mehrere Ausstellungsprojekte.
Andrea Edel
Redaktion: Petra Wilhelmy
Alle Abbildungen: VG Bild-Kunst, Bonn
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