André Sive gehörte zu dem Team französischer Urbanisten, die der Militärgouverneur des Saarlandes, Gilbert Grandval, im Herbst 1945 zum Wiederaufbau des zerstörten Landes an die Saar berief.
1899 als Andras Szivessy in Budapest geboren (Abram 1996 nennt Szeged als Geburtsort), führt das Studium der Architektur den Ungar über die Studienorte Wien und Berlin nach Paris in das 1923/24 gegründete 'Ateliers du Palais de Bois' zu Auguste Perret. Ein Foto aus jenen Tagen zeigt den jungen Andras Szivessy zusammen mit anderen Studierenden in dem lichtdurchfluteten Atelier, dessen anziehende, durch die anregende Persönlichkeit Auguste Perrets geprägte Atmosphäre immer wieder geschildert wird (Abb. bei Cohen, Abram et Lambert 2002, S. 326). Auguste Perret hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts als einer der ersten Architekten mit dem neuen Werkstoff Stahlbeton zu bauen begonnen, er gilt als Wegbereiter der Moderne in Frankreich.
Zu Sives Pariser Studienkollegen zählen unter anderen Pierre Forestier und Ernö Goldfinger. Seine erste Arbeiten sind Möbel und Einrichtungen für Pariser Wohnungen, die er in Arbeitsgemeinschaft mit Goldfinger entwirft. Zusammen mit Ernö Goldfinger und Pierre Forestier nimmt Sive 1927 an dem Wettbewerb für den Gerichtshof von San Salvador teil. Die eingereichten Zeichnungen enthalten unter anderem den Entwurf für eine Kolonnade aus Stahlbeton, die den Einfluss von Auguste Perret erkennen lässt.
Von 1931 bis 1933 arbeitet André Sive an der Seite von Pierre Forestier, der 1930 den Wettbewerb der Fédération nationale des Blessés du Poumon et des Chirurgicaux (FNBPC) um die 'Cité sanitaire de Clairevivre' in Salagnac/Dordogne gewonnen hat. Die beiden jungen Männer stehen damit "vor der Aufgabe der Entwicklung einer kompletten Stadt auf freiem Feld, ca. 50 km entfernt von den nächsten Städten Périgueux und Brive. In nur 25 Monaten (April 1931 bis Juni 1933) entstehen 180 Einfamilien- und zwei Mehrfamilienhäuser, ein Krankenhaus, ein Hotel mit Café, Restaurant und Kino, Geschäfte, eine Schule im Freien, eine Auto-Werkstatt und ein Heizwerk. Den quasi autarken Charakter dieses Experiments erleben die beiden Architekten wie ein Abenteuer, da die meisten Bauelemente vor Ort aus dort vorkommenden Rohstoffen gefertigt werden; ein ununterbrochen arbeitendes Brechwerk liefert Zuschlagstoffe für den Beton, dem Sand aus benachbarten Sandgruben und Flüssen zugesetzt wird. Zeitweilig arbeiten mehr als 800 Arbeiter auf der Baustelle, und die Errichtung dieser modernen Stadt ist ein zwischen den beiden Weltkriegen für Frankreich einmaliges Experiment hinsichtlich des Programms als auch der funktionalen Architektur." (Abram 2004, S. 312)
Danach arbeitet Sive im Büro von Eugène Beaudouin und Marcel Lods, die in dieser Zeit in Arbeitsgemeinschaft mit dem lothringischen Konstrukteur Jean Prouvé und dem Ingenieur Vladimir Bodiansky das innovative 'Maison du Peuple' in Clichy/Hauts-de-Seine entwickeln. Spätestens hier lernen sich Sive und Prouvé kennen. Zwei gemeinsame Projekte sind für das Jahr 1939 durch Dokumente im Nachlass Prouvé belegt.
Nach dem militärischen Sieg Deutschlands über Frankreich, dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 und der Besetzung und Teilung des Landes sucht André Sive Zuflucht in Algerien. In Algier schließt er sich Eugène Claudius-Petit, dem späteren französischen Minister für Wiederaufbau, an und wird zum Abteilungsleiter im Architekturdienst der Provisorischen Regierung der Republik Frankreich ernannt. Sive nimmt an Studien zum Wiederaufbau teil, schreibt darüber in 'Combat' und erarbeitet zusammen mit André Vigneau ein Drehbuch für einen Film 'Construire la France', der indessen nicht zustande kommt. Er ist Mitglied in ASCORAL (L’Assemblée des Constructeurs pour une/la Rénovation Architecturale), einer verdeckt operierenden Vereinigung von ca. 100 Engagierten um Le Corbusier,
Nach der Befreiung Frankreichs und dem Kriegsende ändert Andras Szivessy seinen ungarischen Namen in die frankophone Weise André Sive um. Zusammen mit Le Corbusier nimmt er an einer von Claudius-Petit geförderten Forschungsreise in die USA teil. Aus diesem Grunde kann er die Leitung des Dienstes für Wiederaufbau und Urbanismus an der Saar, die ihm Gouverneur Gilbert Grandval im Herbst 1945 auf Empfehlung von Jean Prouvé anträgt, nicht annehmen und schlägt an seiner Stelle seinen Kollegen Marcel Roux vor.
Grandval hatte in der Bewegung 'Ceux de la Résistance' den Architekten, Ingenieur und 'homme d’usine' Jean Prouvé aus Nancy kennengelernt, der ihn mit der modernen Architektur vertraut machte. So erkannte Grandval die Architektur und Stadtbaukunst als einen Teil der Kulturpolitik, mit deren Hilfe er die Entnazifizierung der Saarländer fördern und die deutsche Bevölkerung der Saar dauerhaft an Frankreich binden wollte. Der von André Sive vorgeschlagene Marcel Roux stellt nun das Team aus den Architekten Georges-Henri Pingusson, Pierre Lefèvre, Edouard Menkès, Jean Mougenot, René Herbst und Gabriel Guévrékian zusammen. André Sive stößt nach seiner Rückkehr aus den USA als stellvertretender Leiter der Abteilung Stadtplanung und Wiederaufbau hinzu. Zusammen mit dem Abteilungsleiter Marcel Roux ist er für die Erarbeitung eines Regionalplanes für das Saarland zuständig.
Erste Ergebnisse ihrer Arbeit publiziert das Urbanisten-Team im Mai 1947 in einer umfangreichen Broschüre. Darin sind die Pläne für den Wiederaufbau der Saarregion nach den Prinzipien des modernen Städtebaus vorstellt, von denen jedoch nur wenig umgesetzt werden kann. Zu den ausgeführten Projekten gehört die Gedenkstätte 'Neue Bremm' in Saarbrücken, die im selben Jahr nach dem Entwurf von André Sive errichtet wird, und von der sich das 30 Meter hohe Denkmal aus Stahlbeton sowie der als Beton-Objekt gestaltete, funktionale Gedenkstein erhalten haben.
Sive nimmt nach der Beendigung seiner Tätigkeit im Saarland Ende 1947 und der Rückkehr nach Frankreich weiterhin Anteil an dem Wiederaufbau deutscher Städte und berichtet darüber in der Zeitschrift 'L'Architecture d'Aujourd'hui'. Den deutschen Architekten an der Saar bleibt er vor allem in Erinnerung wegen seines vorbehaltlosen Engagements für das Anliegen des 'Neuen Bauens' und wegen der Fülle von Kontakten, die er zu den französischen Hauptvertretern des 'mouvement moderne' vermittelte. Darüber hinaus hat André Sive durch die Weitergabe seiner Erfahrungen bei der Entstehung der 'Chambres des architects' die Initialzündung zur Gründung der Architektenkammer des Saarlandes (AKS) als Körperschaft des Öffentlichen Rechts gegeben (vgl. Koellmann 1959).
Nach Paris zurückgekehrt, gründet er ein eigenes Atelier (17, rue Séguier, Paris 6e; später rue Vauquelin, Paris 5e) und schließt sich wiederum Eugène Claudius-Petit, seit 1948 Minister für Wiederaufbau, an. In den kommenden Jahren ist Sive zumeist für das Ministère de la Reconstruction et de l’Urbanisme (MRU) tätig, das nun mit verstärkten Kräften am Wiederaufbau Frankreichs und der Linderung der drängenden Wohnungsnot arbeitet. In diesem Zusammenhang ist er mehrfach mit Versuchsbaustellen des MRU betraut. Die bekannteste dürfte die inzwischen unter Denkmalschutz stehende Siedlung 'Sans Souci' in Meudon bei Paris sein, in der André Sive zusammen mit Henri Prouvé eine Mustersiedlung aus Einfamilienhäusern errichtet, die industriell in den Werkstätten von Jean Prouvé in Maxéville bei Nancy aus Aluminium und Stahl gefertigt werden. In Meudon plant Sive auch sein eigenes Wohnhaus mit Architekturbüro als dreigeschossiges Gebäude, teils aus Mauerwerk und teils aus Metallelementen der Werkstätten Prouvé bestehend – ein Entwurf mit experimentellem Charakter, der ungebaut bleibt.
Der Bogen der Interessen und Tätigkeiten ist weit gespannt. Sive hat "mit seinem Werk, das von ihm als glänzender Zeichner oft in schlagend skizzierter Darstellung entwickelt wurde, das weite Gebiet von Möbel und Innenraum über Spezialsiedlungen aller Größenordnungen, Stadtprojektierungen und Ausführungen bis zu den speziellen Aufgaben des Krankenhausbaues bestellt." (Koellmann 1959) Neben seiner Tätigkeit als entwerfender Architekt und Städteplaner ist André Sives Mitwirkung als Gutachter bei der Planung der neuen Hauptstadt Brasiliens Brasilia 1956 zu erwähnen; ebenso seine langjährige Arbeit für die Zeitschrift 'L’Architecture d’Aujourd’hui', einem Sprachrohr für moderne, internationale Architektur, und sein Engagement als 'Comité Directeur du Cercle d’Etudes Architecturales'.
Die Vollendung der ebenfalls von Eugène Claudius-Petit, nun als Bürgermeister, angeregten neuen Wohnstadt Firminy-Vert/Loire, die André Sive zusammen mit Marcel Roux und Charles Delfante 1954 beginnt, erlebt er nicht mehr. Keine 60 Jahre alt, stirbt André Sive 1958 in Morainvilliers/Seine-et-Oise (Yvelines).
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Redaktion: Oranna Dimmig
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