Die Künstlerin Andrea Neumann ist eine Malerin par exellence. Mit äußerster Konsequenz verfolgt sie das malerische Handwerk, ohne sich in anderen Kunstformen oder Gattungen zu verlieren. Während ihres Studiums an der Hochschule der Bildenden Künste saar in den 1990er Jahren war große Überzeugungskraft nötig, um der gegenständlichen Malerei ein Existenzrecht zu geben. Seitdem überzeugt die Künstlerin mit einem figurativen Stil, den sie bereits früh fand und stetig weiterentwickelt hat.
Ihre Bilder zeigen eine ausgeprägte haptische Qualität. Sichtbar bleibt die aktive Arbeit am Bild unter Verwendung aller malerischen Arbeitsmittel. Die Farben mischt sie mit größter Sorgfalt aus Eitempera, um die gewünschten Farbnuancen und die gewollte Farbkonsistenz zu erreichen, mal eher eine lasierend durchscheinende, fast durchsichtige, mal eine opake und undurchsichtige Farbfläche. Mit größtem Gespür für den Farbverlauf wird die Farbe teils horizontal, teils vertikal auf die Leinwand aufgetragen. Der kontrollierte Arbeitsprozess und die Akzeptanz des Zufalls münden, geführt durch die Erfahrungswerte der Künstlerin, im fertigen Werk. Der Malprozess bleibt deutlich sichtbar: Spuren von Farbtropfen, Schlieren und Lachen verleihen der Malerei ein Selbstbewusstsein, das die Aktualität des Mediums neu belegt. Den Malgrund, die Leinwand lässt die Künstlerin häufig unbemalt bzw. unbearbeitet. In einigen Werken "zeichnet" sie direkt mit dem Farbpinsel auf die unbehandelte Fläche ("Aufbau", 2009), bei anderen Werken dient der ungrundierte Hintergrund als "Experimentierfläche" für malerische Techniken. Eine rohe Leinwand gibt Spielraum zum Assoziieren und Vervollständigen. Der Betrachter wird aufgefordert, die Leere zu füllen.
Die Bilder in meist großen Formaten heben die Stofflichkeit der Malerei hervor. Die Motive entstammen sowohl ihrer persönlichen Umgebung als auch aus vorgefundenem oder selbstgefertigtem Fotomaterial. Ihre gewählten Motive hat Andrea Neumann in den letzten Jahren in mehreren Zyklen zusammengefasst und arbeitet abwechselnd an verschiedenen Themenreihen. So malt sie Bilder zur Gerechtigkeit, wie "Richter", "Revision" und "Orakel", zu kirchlichen Themen wie "Taufbecken", "Sarkophag", "Chapelle", "Prozession" oder "silver sixpence". Zu Themen der Arbeitswelt und Arbeiten auf der Baustelle fertigte sie ebenfalls einige Gemälde an. Bei allen Bildern hat der Betrachter das Gefühl, etwas Überzeitliches, Allgemeingültiges zu betrachten, etwas, das nicht zeitgebunden und aus unserer Erinnerung bekannt ist. Seit dem Jahr 2000 malt Andrea Neumann die Gesichter ihrer Figuren ohne Physiognomie; sie verstärkt mit der schemenhaften und undeutlichen Malweise ein fernes Bild im kollektiven Gedächtnis.
Obwohl das Bildrepertoire sehr vielseitig ist und Stillleben, Landschaften, Personengruppen oder auch Portraits umfasst, kann Andrea Neumanns Malerei dennoch nicht eindeutig als rein gegenständliche Malerei klassifiziert werden. Die Künstlerin platziert sich selbstbewusst genau zwischen die Grenzen von Abstraktion und Figuration, so dass die Arbeiten formal in beide Richtungen changieren können. Falls Bildtitel vorhanden sind, erleichtern sie die gegenständliche Lesart. Denn nur was der Betrachtende weiß, kann oftmals von ihm auch identifiziert werden. Demgegenüber befinden sich einige Bilder "ohne Titel" nah an der Grenze zur Abstraktion und lassen den Betrachter mit seinen Assoziationen allein. So etwa das Bild "ohne Titel" (2002), das keinen Hinweis auf einen Gegenstand gibt und schwer zu entschlüsseln ist. Verschiedene Farbschichten, opake und lasierende, Farbspuren und Farbtropfen zeigen den Malprozess; einzig die schwache Andeutung einer Kugel in der Mitte könnte auf ein Gegenstand verweisen. Oder handelt es sich um ein sitzendes Spielfigürchen mit Helm? Im Gegensatz dazu würde der Betrachter das weiße Zelt in der Landschaft des Bildes "Flüchtige Behausung" (2007) ohne dem Titel wohl kaum erkennen können. Titel können aber auch verwirren, denn in der Namensgebung des Bildes "Gefasste Fläche" (2011) gibt es keinen Hinweis auf den schwarzen Zeltaufbau, der im Bild erkennbar ist.
In den frühen Bildern aus den 1990er Jahren, am Anfang ihrer malerischen Tätigkeit, ist das Charakteristische von Neumanns Kunst bereits ausformuliert: das Schemenhafte und Unfertige. Auch die gewählten Motive, ein Interieur, Architektur und eine Alltagsszene, entsprechen ihrer heutigen Themenwahl. Allerdings rückt die malerische Vorgehensweise, der Arbeits- und Schaffensprozess im Gegensatz zu ihren aktuellen Bildern in den Hintergrund. Der Farbauftrag ist gleichmäßig sowie sorgfältig aufgetragen und bedeckt die Leinwand vollständig. Pinsel und Farbe sind Mittel zum Zweck, ordnen sich dem Gegenstand unter und streben noch keine Autonomie an.
In dem Bild "Fußbad" sind die wesentlichen Merkmale von Neumanns Kunst bereits angelegt. Ungewöhnlich ist jedoch die Perspektive, eine aus der Vogelperspektive dargestellte sitzende Frau, die ihre Füße badet. Die Farbgebung ist in monochromen Grautönen gehalten. Das Motiv, obwohl mit nur wenigen breiten Pinselstrichen markiert, ist deutlich zu erkennen. Während bei den frühen Bildern die Motive aus Pinselstrichen konstruiert werden, sind spätere Arbeiten in Farbauftrag und Duktus weitaus komplexer. In "Avalon" (2012) sind kaum noch gleichmäßige Pinselspuren auszumachen. Die Farbe und ihr Verlauf scheinen eigenständig geworden zu sein. Der Hintergrund zeigt eine fast unbemalte Leinwand, nur lasierend, stark verdünnte Farbspuren bedecken in vertikalen Streifen den Grund. Tropfspuren, Schüttbewegungen, Farblachen und -spritzer prägen das Bild und geben ein Motiv zu erkennen, das sowohl ein geöffnetes Fenster als auch einen Beichtstuhl darstellen könnte. Der undeutliche und vage Charakter des Bildes wird durch den Bildtitel verstärkt. Avalon als mythischer Ort aus der Artussage gibt dem Betrachter mehr Rätsel auf, als er Lösungen birgt.
Die von Andrea Neumann gemalten kleinen Bildformate "Begrenzung" und "Vice Versa", beide aus dem Jahr 2010, unterscheiden sich in Motiv und Farbgebung von den übrigen Werken. Hier zeigt sie zwei deutlich erkennbare Bildgegenstände, in einer dunklen, monochromen Farbgebung, die zwischen Schwarz und Grau liegt. Als Bildpaar zeigen sie sowohl eine runde als auch eine eckig, perspektivisch komplexe Form. Ein Ball, der wegen der Lineatur einen Basketball darstellen könnte, und ein gefaltetes Papier sind zentriert im Bildmittelpunkt platziert. Trotz ihrer Klarheit in der Darstellung begleitet die Bilder eine Rätselhaftigkeit, die durch die Titel evoziert wird und die eigentlich eher banalen Bildgegenstände ins Symbolhafte steigert. Bei der gefalteten Papierform handelt es sich um das bei Kindern beliebte "Himmel-und-Hölle-Spiel", welches mit Hilfe des Zufalls zwei Möglichkeiten der Zukunft voraussagen kann. Zwei Eventualitäten sind ebenfalls im Begriff "Vice Versa" bzw. "und umgekehrt" vorhanden.
Die Künstlerin bezeichnet diese Arbeiten als eine Art "Pausenbilder". Während der Arbeit an diesen Werken unterbricht sie ihre übliche Arbeitsweise, um sich in kleinen Formaten und deutlich dargestellten Bildmotiven "zu erholen". Die anstrengende und angespannte künstlerische Arbeit an den großen Formaten unterbricht sie bisweilen für diese weniger aufreibende, kontrolliertere Ausführung der Bildgegenstände.
Das Bild "Verneigung" (2011) ist in Bildmotiv und Malweise typisch für Andrea Neumanns künstlerische Arbeit. Auf dem großen Format sind zwei menschliche Gestalten zu erkennen, die sich gegenüberstehen und voreinander verneigen. Außer einer Horizontlinie in der Mitte des Bildes gibt es keinerlei Hinweise auf das Umfeld oder auf eine Landschaft. Die Weite des Himmels und die Kargheit der Darstellung könnte auf eine Landschaft am Meer deuten. Die Figuren sind in Gewänder gehüllt bzw. tragen lange Röcke, woraus man auf einen fremden Kulturkreis schließen könnte. Offensichtlich sind die Hände zum Gebet gefaltet und verleihen der Situation etwas Spirituelles. Die Gesten und Bewegungen der Figuren zeugen ebenfalls von einer rituellen Handlung, die dem Europäer jedoch eher unbekannt ist. Es wird weder deutlich, ob es sich um eine friedliche, religiöse Verneigung handelt, eine Art Begrüßung geprägt durch Toleranz und Respekt oder gar eine Verneigung vor dem Kampfe. Die schemenhafte und verschwommene Maltechnik unterstreicht die Atmosphäre des Bildes. Während die landschaftliche Umgebung von einem ruhigen, breiten Pinselduktus geprägt ist, sind die Figuren mit Tropf- und Verlaufsspuren der Farbe ausformuliert. Anstatt große Leinwandflächen unbearbeitet zu lassen, arbeitet die Künstlerin hier mit Negativformen. Die freigelassenen Malgrundflächen markieren die Körperformen der menschlichen Figuren.
Ähnlich sind bei dem Bild "Aufstellung" (2011) Körperpartien mit Negativformen markiert. Gezeigt werden vier weibliche Personen ohne Physiognomien. Der Titel könnte sich auf eine psychologische Therapieform beziehen, bei der es um die Aufarbeitung der Familiengeschichte geht. Anstatt den Gesichtern individuelle Charaktere zu verleihen, werden diese von der Künstlerin durch das Auslassen bzw. Weglassen der Farbe hervorgehoben. Deutlich gekennzeichnet sind allenfalls die Gewänder, teils mit Musterung, und die Körperhaltung der einzelnen Frauen, die sich an einer Mauer anzulehnen scheinen. Vermutlich handelt es sich hier um eine Gruppendarstellung von Menschen ebenfalls aus fernen Ländern, was sich aus den exotischen Kleidungsstücken schließen lässt. Andrea Neumann reduziert, akzentuiert und konzentriert ihre Bildvorlagen mit wenigen geführten Pinselstrichen auf ein Wesentliches. Jeder einzelne Betrachter wird aufgefordet dieses Wesentliche für sich selbst individuell zu entschlüsseln und zu verstehen.
Silke Immenga
Redaktion: Doris Kiefer, Petra Wilhelmy
Alle Abbildungen: VG Bild-Kunst, Bonn
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