Ihre künstlerische Ausbildung erhält Annegret Leiner in den 1960er Jahren bei namhaften Künstlern. An den Besuch der Werkkunstschule in Saarbrücken bei Oskar Holweck schließen sich Studien an der Kunstakademie Braunschweig bei Emil Cimiotti sowie ein Studium der Kunsterziehung an. Annegret Leiner lebt als freie Malerin und Graphikern in Saarbrücken.
Bereits in ihren ersten Werken, noch ganz dem Gegenständlichen verpflichteten Zeichnungen, zeigt sich in nuce eines der Leitthemen von Annegret Leiner: Die Auseinandersetzung mit der leiblichen Grunderfahrung von Enge und Weite. Staudämme und Mauern, um nur diese Motivgruppe der 1970er Jahre herauszugreifen, figurieren in jenen frühen Arbeiten als Platzhalter der Begrenztheit und Unfreiheit menschlicher Existenz.
In der Folgezeit löst sich Leiner kontinuierlich von den Vorgaben der Gegenstandswelt und deren detailgetreuer Abschilderung, um stattdessen ihre Bilder am Leitfaden des Leibes zu entwickeln. Formal geht dies mit der zunehmend abstrakt-expressiven, "informellen" Erscheinungsweise ihrer Werke einher, inhaltlich mit der Zunahme an Emotionalität und Spontaneität. Die Nähe zur Kunst des Informel bekundet sich eindringlich in der aufwühlenden Gestik der Linien- und Pinselführung und der zunehmenden "Handschriftlichkeit" ihrer Werke. Mehr und mehr spricht aus ihren Bildern ein leidenschaftlicher Selbstbehauptungswille und das kompromisslose Streben nach Freiheit. Ihr Freiheitsbegriff weist dabei eine große Nähe zu jenem der Existenzphilosophie auf, wonach Freiheit die "Wahl meines Selbst" bedeutet, mit allen Möglichkeiten, sich selbst zu ergreifen oder zu verfehlen.
In den 1980er Jahren tritt Leiner mit Zeichnungen und Gemälden an die Öffentlichkeit, in denen sich das existentielle Wesen ihrer Kunst nun unverstellt zeigt. Sie bilden einen Durchbruch in Leiners künstlerischer Entwicklung. Dies gilt in besonderem Maße für die großformatigen Kohlezeichnungen, in denen sie den Betrachter mit fast lebensgroßen menschlichen Gestalten konfrontiert. Deren Körper entwickelt sie ganz aus der Linie und schöpft- fern von jeder Schönlinigkeit- deren hochexpressives und psychographisches Potenzial virtuos aus. (Ohne Titel, 1988, Kohle auf Papier, 180 x 110 cm) Die faserige, immer wieder abgesetzte, zittrig-nervöse Linie wird zu einer Art Markenzeichen Leinerscher Kunst. Spröde, zerquält und suchend, aber von nicht zu unterschätzender Vitalität, ballt sie sich mancherorts zu komplexhaften Linienknäueln zusammen. Zonen der Verdichtung und Lockerheit wechseln spannungsvoll ab und verstärken den aufwühlenden Charakter dieser Bilder. Die Figuren sind zumeist regelrecht in die Bilder hineingepresst, stemmen sich gegen die Bildränder oder werden von ihnen überschnitten. Dies suggeriert Enge und sorgt für einen gleichsam klaustrophoben Zug dieser Werkgruppe.
Die "korrekte" Wiedergabe des Körperbildes weicht den fragmentierten, torsoartigen "Restkörpern", womit Leiner im Spannungsfeld von Figuration und Abstraktion agiert. (Ohne Titel, 1988, Kohle auf Papier, 180 x 110 cm) Diese expressive Umdeutung körperlicher Zusammenhänge radikalisiert sich in den Kohlezeichnungen der späten 1980er und beginnenden 1990er Jahren, in denen zum Amorphen tendierende plumpe Gliedmaßen aus der Körpereinheit "heraustreten" - fast wörtlich zu nehmen -, sich aberwitzig drehen und wenden und damit gleichsam gegen die sie beengenden (Bild-) Grenzen aufbegehren. (Ohne Titel, 1990, Kohle und Kreide auf Packpapier, 128 x 110 cm) Die geradezu brutale Intensität dieser Zeichnungen paart sich mit ihrem existentiellen Anspruch auf Grenzüberschreitung. Denn nach Karl Jaspers sind "Grenzsituationen wie eine Wand an die wir stoßen". (Ohne Titel, 1990, Kohle und Kreide auf Packpapier, 150 x 150 cm) Leiner setzt diese Erfahrung in eine Liniensprache um, deren gestische Heftigkeit und Unmittelbarkeit das Konflikthafte der Situation in einer Art "écriture automatique" veranschaulicht. (Ohne Titel, 1990, Kohle und Kreide auf Packpapier, 128 x 110 cm)
In diese Zeit fallen auch die ersten großen Gemälde in Mischtechnik. Leiner macht sie zu Erscheinungsfeldern von polaren Kräften und Energien. Gegenständliches schwindet zusehends aus diesen Werken, doch erlauben viele Formkomplexe Assoziationen an Figuratives. So etwa die wuchtigen, zumeist schwarzen Gebilde, deren gestischer Ausdrucksgehalt sie in die Nähe der Warburg’schen Pathosformeln, jenen "Prägungen von gesteigerten Gefühlen" rückt. (Ohne Titel, 1989, Mischtechnik auf Leinwand, 180 x 220 cm) Deren geballte Kraft steht im Kontrast zu den eruptiven Entladungen zuckender Linien, die die Bildfläche dynamisch überziehen. Die Dramatik dieser Werke speist sich zu einem großen Teil aus dem Dualismus von Hell und Dunkel. Schwarze, substanziell verdichtete Bereiche heben sich kontrastreich von diversen Weiß- und Grautönen ab. (Ohne Titel, 1989, Mischtechnik auf Leinwand, 180 x 240 cm) Anders als die Zeichnungen mit ihren eher planen einfarbigen Bildgründen, entstehen in den Gemälden Bildräume von atmosphärischer Lockerheit. Die Farbpalette ist mit dem Vorherrschen von Schwarz, Weißgrau und Braunrot auf eine elementare Trias reduziert. Zusätzliche Akzente setzen von Bild zu Bild variierend Rot, Blau und Gelb. Doch zeigen bereits diese frühen Bilder einen Nuancenreichtum der Farbe, der Leiner auch als virtuose Koloristin auweist. Die farbige Vielschichtigkeit erreicht sie vor allem durch den schichtenden Auftrag lasierender Farben.
Mitte der 1990er Jahre zeichnen sich neue Entwicklungen ab, wie eine Serie von Zeichnungen belegt. Dies rückt en passant auch eine Besonderheit in Leiners Vorgehensweise in den Blick: Ihre Eigenart, künstlerische Problemstellungen nicht an einem einzelnen Bild, sondern in Werkgruppen zu Leibe zu rücken. So entstehen Serien von gleichartigen, immer aber eigenständigen Bildern, als Variationen ein und desselben Problems. War die Linie in den vorangegangenen Zeichnungen und Gemälden schon affektgeladen und hochnervös, so steigert Leiner diesen Eindruck neuerlich: Die Striche werden fragiler und dünner: zittrige Schriftspuren von Erschütterungen und Verunsicherung. ( "September", 1995, Ölkreide, Gouache, Collage auf Zeichenfolie, 160 x 135 cm)
Manche Blätter jener Phase zeigen chiffrenhafte Verweise auf Gegenständliches. So treten in diesen Zeichnungen beispielsweise immer wieder die unsicher-verwackelten Silhouetten von kleinen Häusern auf. Viele Werke dieser Arbeitsperiode erhalten durch kryptisch klingende Titel eine geheimnisvolle Aura. ("Das Haus des Jägers", 1996, Ölkreide, Gouache, Collage auf Zeichenfolie, 180 x 250 cm) Der seismographischen Qualität der Linien kontrastieren robuste, breite Pinselstriche von formaler Dominanz, oftmals in Schwarz. All diese Linien verknoten sich zu unentwirrbaren, dichten Linienknäueln, die ausweglose Verstricktheit und Enge signalisieren. (Ohne Titel, 1998, Ölkreide, Gouache, Collage auf Zeichenfolie, 26 x 36 cm) Die skripturale Heftigkeit dieser Zeichnungen bezeugt eine Preisgabe an das Medium, wie sie sonst in dieser Unbedingheit nur bei Wols und dessen auf das Existentielle zielender Kunst zu beobachten ist. Doch anders als jener hinterlegt Leiner die enervierten Liniengeflechte mit "beruhigenden" großteiligen planen Formen, die die Erregtheit des Vordergrundes abfangen. Ihre Kompaktheit und Klarheit sorgen für eine Stabilisierung der Komposition. (Ohne Titel, 1998, Ölkreide, Gouache, Collage auf Zeichenfolie, 26 x 36 cm)
Auch mit der dezenten Farbgebung – mildes Grau oder Graubraun - setzt Leiner der extremen Aufgewühltheit im Vordergrund einen ruhigen Klang im Hintergrund gegenüber. Gleichwohl bleiben diese Formelemente auch schemenhaft-abgedämpft, was mit einer Neuerung zusammenhängt. Erstmals setzt Leiner nun auch transparente und milchige Folien ein, die sich überlagern und Durchblicke gewähren, Vielschichtigkeit verbildlichen und den Weg bahnen für die kurz darauf entstehenden Collagen. Etwa seit 1998 tauchen bunte Papiere, oft Plakatabrisse, in den Bildern auf, werden zu haltgebenden Gerüsten mit orthogonaler Tendenz zusammengefügt. ( Ohne Titel, 1998, Ölkreide, Gouache, Collage auf Zeichenfolie, 135 x 160 cm) Sie setzen ein dominantes Gegengewicht zu den weiterhin im Vordergrund angesiedelten Liniengefügen, signalisieren damit eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Durch die Einbeziehung der Plakatfragmente erfolgt zudem eine Öffnung zur Außenwelt. Die Hereinnahme der Außenwirklichkeit durch konkrete Materialien bleibt aber ein Zwischenspiel.
In der Gemäldeserie von 2001 knüpft Leiner nun an die in den Zeichnungen und Collagen erprobten Neuerungen an. Die großformatigen, annähernd quadratischen Bilder greifen das Prinzip der Schichtung auf, an die Stelle der transparenten Folien treten in den Tafelbildern rechteckige Farbflächen, die übereinander gelagert werden. Meist sind die Farben deckend aufgetragen, manche scheinen "semitransparent". So wirken diese Bilder dichter "gebaut" als ihre Vorgänger der 1990er Jahre. (Ohne Titel, 2001, Acryl und Pastellkreide auf Leinwand, 230 x 200 cm) Rechtwinklige Rahmenfragmente grenzen innerbildlich Terrains ab, schaffen umgrenzte "Freiräume", parallele Farbbalken erinnern an stark stilisierte zaunartige Einfriedungen. So sprechen auch diese Bilder von Enge und Weite. (Ohne Titel, 2001, Acryl und Pastellkreide auf Leinwand, 230 x 200 cm) Von den geometrisierenden Elementen heben sich wiederum die expressiven handschriftlichen Linien ab. Trotz der komplexhaften, labyrinthischen Verdichtung und Verflechtung von Farbplänen und Farbbändern zeichnet sich in diesen Gemälden schon eine Tendenz zur "Entgrenzung" und zur Aufhebung der beengenden Rahmenoptik ab, wie die mancherorts fast schwebenden und nach oben ziehenden Versatzstücke nahe legen.
2004 vollzieht sich mit der Hinwendung zum Landschaftsgenre thematisch ein Umbruch. Auf dem Weg von der Enge zur Weite ist dies ein weiterer konsequenter Schritt, denn stärker als andere Gattungen hält "Landschaft" Entgrenzungsmöglichkeiten und damit ein Freiheitsversprechen bereit. Ein Paradebeispiel für den zunehmenden Ausdruck von Freiheit in den nun entstehenden Bildern ist eine Landschaft aus dem Jahr 2006, in der gleichsam Effekte barocker Deckenmalerei nachklingen. ("Landschaft", 2006, Acryl auf Leinwand) Das Bild erscheint weiterhin als Wirkfeld elementarer Kräfte, doch drängen schwebende Form- und Farbbereiche über die Bildgrenzen hinaus. Waren die Bildränder bislang Barrieren, gegen die es anzukämpfen galt, enthalten die neuen Gemälde das Angebot zur Grenzüberschreitung. In diesen Bedeutungskomplex fügt sich die Leichtigkeit und Enthobenheit, die diese Landschaften ausstrahlen, nahtlos ein. Leiner inszeniert eine Kraftentfaltung gegen die Schwere: Mal setzt sie dynamisch aufragende Formzeichen ein, die für einen forcierten Höhenzug sorgen, mal sind es Anklänge an atmosphärisch-naturhafte Erscheinungen wie Nebel oder Wolken, die für die schwebende Leichtigkeit verantwortlich sind. Ihre Kunst erweist sich hierin als ferne, aber souveräne Nachfahrin barocken Entrückungsbegehrens und romantischer Entgrenzungssehnsüchte. Schwerelosigkeit erlangen diese Werke zu einem nicht unerheblichen Grad durch das Kolorit.
Spielen in den ersten Landschaften noch reich differenzierte Grüntöne als Reminiszenz an Vegetabiles eine wichtige Rolle ("Landschaft", 2006, Acryl auf Leinwand), so verschiebt sich die Palette mehr und mehr zu kühlen, eleganten Tönen wie Türkis, Hellblau, Rosé und Grau, um sich schließlich in der jüngsten Phase zum konträren Farbpaar Blau und Braun zu verknappen. (Ohne Titel, 2006, Acryl auf Leinwand, 140 x 180 cm) Der lasierende Auftrag kann sich zu aquarellhafter Transparenz steigern und erzeugt mancherorts Farb-Formbereiche von kristalliner Klarheit. Mehr und mehr werden diese Bilder zu "Himmelslandschaften". (Ohne Titel, 2006, Acryl auf Leinwand, 140 x 180 cm) Ein Novum dieser Landschaften ist der Verzicht auf den Horizont, der als Paradigma einer Grenzerfahrung nicht in das Konzept der nach Entgrenzung, Weite und Freiheit strebenden Werke Leiners passt. In den jüngst entstandenen Werken scheint Leiner die lastende Gebundenheit des Leibes fast vollkommen hinter sich zu lassen. Diese Landschaftsbilder bestechen durch die elementare Kühnheit der Bildsprache sowie die souveräne Engführung von Landschafts- und Leibesthematik.
Der Bildhintergrund erscheint als leere Fläche, von dem sich Formgebilde von kalligraphischer Qualität absetzen. (Ohne Titel, 2006, Acryl auf Leinwand, 100 x 120 cm) In ihnen verbinden sich Emotionalität, Bestimmtheit und formale Prägnanz und erzeugen eine spannungsvolle Balance zwischen Reiz und Ruhe. Leiner hat in diesen reifen Bildern Schwere und drückenden Ballast abgeworfen. Ihre spontane Direktheit und Abgeklärtheit erlauben es im besten Sinne, sie als Spätwerke zu bezeichnen.
Leiners Kunst führt den Betrachter in Grenzsituationen und fordert ihn heraus, sich dem Wesentlichen seines Daseins zu stellen. Das ist mitunter unbequem und mühsam, denn ihre Bilder zeugen von den Mühen und der Wirrsal menschlicher Existenz. Sie meiden konsequent das Oberflächliche, Gefällige und Glatte und liefern stattdessen Perspektiven der Freiheit und Selbstfindung. Ihr existentieller Tiefgang erlaubt es, sie in einem Atemzug mit Wols, dem Hauptmeister informeller Kunst zu nennen. Dies macht sie zu einer der raren Vertreterinnen einer existentiellen Malerei in der zeitgenössischen Kunst.
Barbara Weyandt
Redaktion: Claudia Maas
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