Bildnerische Verrückungen des Realen.
Volker Lehnerts Bilder zwischen überbordender Gegenwärtigkeit und entfremdender Leere
Grafische und malerische Momente erzeugen in Volker Lehnerts Bildern eine fortgesetzt produktive Konfliktsituation. Farbige Linien und Flächen geben stets abbildliche Binnenstrukturen vor. Sie beschreiben zunächst meist schwer erkennbare Figuren, später vereinzelte Architekturelemente, danach wiederum partiell isolierte, comicartige Szenen. Es sind dies bildnerische Auffassungen, die den aufgenommenen Faden auf verdeckte Weise fortspinnen, ohne dass er Gefahr läuft zu reißen.
In diesem Sinne lassen sich bereits in Lehnerts frühen Bildern die Vektoren seines malerischen Schaffens bestimmen. Abbildliches wird in ihnen auf einen Kernbestand reduziert und allenfalls in einfachen, rudimentären Formen wiedergegeben. Überkommene, naturbezogen-figurale Muster beanspruchen nicht länger eine sinngebende Rolle. Lehnert gab sie zu Gunsten einer archetypisch-eindrücklichen Formensprache auf, wobei die Tradition der Art Brut wertvolle Orientierung bot. Es zählte die unverhohlen vorgetragene Aneignung von Wirklichkeit mit spezifisch malerischen Mitteln, nicht aber eine erzählerisch vorab fixierte Zielvorstellung. Figuren werden in eine differenzierte, zumeist ausholende Komposition aus Linien und Flächen eingebunden, und sie sind das Resultat eines sich nach und nach verdichtenden bildnerischen Gefüges. Auffallend indes, dass Lehnert stets eine verbindliche bildnerische Ordnung anstrebte. Diese erreichte er entweder vermittels flächig-geometrischer, prononciert gesetzter Formen, oder aber indem er die Fläche um die Figuren, respektive um das bildnerische Geschehen, mit dunkler Farbe bedeckte.
Farbige Linien und Flächen beanspruchen ein Übergewicht in der Anlage des Bildes wie in dessen inhaltlicher Ausgestaltung. Ein Procedere, das eine Abstimmung nach farbigem Valeur als Träger einer von außen herangetragenen Bedeutung von vornherein ausschloss. Worum es statt dessen ging, war das "starke, elementare Erlebnis", das nicht zuletzt in den vereinfachten Figuren bzw. deren Fragmenten einen unmittelbaren Reflex fand.
Figur und Bildgrund scheinen des Öfteren zu verschmelzen. Man vergleiche in diesem Zusammenhang nur die verschiedenen Formulierungen des metamorphen Themas „Leib in Landschaft“, in dem die Bildfindung lange offen blieb. Demnach sind Figuren und landschaftliche Elemente keineswegs vorgegeben, sondern sie können im Umkehrschluss auch das Ergebnis einer das Prinzip des Zufalls einschließenden bildnerischen Erfahrung sein.
Figuren wurden darüber hinaus einer malerisch expressiven Umgebung angepasst, die sich ihrerseits zwar erkennbar über eine differenzierende Umgebung legte, sie jedoch keineswegs vollständig auslöschte. Diese gestische Setzung erzeugte ein mitunter geradezu ausuferndes Potential. Dessen Ausdruckswille vermochte durch die oft beträchtliche Größe dieser Bilder einen indifferent anmutenden, tranceartigen Zustand heraufzubeschwören, in dem sich Bewusstes und Unbewusstes begegnen und das bestimmte, zumeist figürliche Assoziationen freisetzte. Diese beließ der Maler, löschte sie vollkommen aus oder überlagerte sie.
Nach einigen Jahren brachte Lehnert diesen Zustand in ein ruhigeres Fahrwasser. Gestisch vorgetragene Übermalungen wurden aufgegeben, wodurch die Kompositionen ausgewogener erscheinen und sich in ihnen geschlossenere Bildarrangements breit machen. Gleichwohl gelten nach wie vor die überkommenen, aus den Bildmitteln abgeleiteten Themen. Auch diese Bilder stehen für eine Entwicklung, die das Reale in Herkunft und Wesen nicht selten auf fest umrissene "Inseln" beschränkt. Wenn farbige Flächen auch den Erzählstrang begrenzen bzw. in diesen einschneiden, so gewinnt Lehnert doch weit mehr als nur eine eindeutige, bildnerisch bestimmte, gegenwärtige Struktur. Abbildliches erscheint hinsichtlich seiner Größe wie seiner formalen Ausarbeitung auf der Bildfläche prinzipiell frei verfügbar. Ähnliche Formen werden modifizierend auf die Bildfläche gebracht, was nicht selten eine Art Schwebezustand bedingt.
Viele dieser Wirklichkeitsfragmente haben ihren Ursprung im zeichnerischen Werk des Künstlers. In Italien und anderswo entstehen auf ausgedehnten Reisen vor Ort großformatige Notate einer oft als ebenso ungewöhnlich und überraschend wie sperrig erlebten architektonischen Konstellation. Ausschlaggebend für die spätere bildnerische Verwertung ist das große Formrätsel, das durch Variationen wie durch seine kompositorische Platzierung im Verbund mit den ausgesparten Flächensegmenten nicht selten eine strukturale Entgrenzung erzeugt.
In diesem Sinne begründet Lehnert in jedem seiner Bilder die große Dimension. Flächen und lineare Formen bestimmen tiefenräumliche Segmente, deren Wirkungspotential kompositorische Weite beansprucht. Der Umstand, demzufolge Lehnert auf der Schwelle zwischen erkennbar Abbildlichem und einer sich davon entfernenden Formensprache arbeitet, vermag diesem Prozess eine gewisse semiotische Leichtigkeit zu geben. Die kompositorisch eingreifenden farbigen Flächen ordnen und begrenzen dabei ebenso, wie sie ihrerseits eine farblich begründete Tiefe freisetzen. Die Übermalung partiell erkennbar früherer Bildschichten vermag die farbige Tiefenwirkung noch einmal zu steigern. Mehr noch: Diese erscheint durch ein retardierendes Moment bestimmt. Frühere Malschichten und deren Bildwelten führen einen geradezu verzweifelten Kampf, um sich zu behaupten und um ihre Präsenz zu sichern.
Lehnerts Bilder überwinden tektonische Gebundenheit. Form und Raum, abbildliche Orientierung und gestische Befreiung, Nähe und Ferne sind die Parameter einer mehrschichtigen Bildanlage, die alle statisch-beschreibenden Momente zugunsten einer bildnerisch offenen Genese ausgespart hat. Der Maler selbst wird zu einem "Teilnehmer" am Bildgeschehen.
Gerade Lehnerts jüngere Bilder geben darüber Auskunft. Hat sich in ihnen doch eine comicartige Erfahrung von Realität als entscheidender Faktor durchgesetzt. Diverse, keineswegs zusammenhängende Motive aus der Welt Karl Mays, Tarzans oder anderer Abenteurergeschichten nehmen die Bildfläche beinahe vollständig in Beschlag, so als handele es sich um autonome Formbezirke. Es war dies freilich ein sich allmählich einstellender Prozess. Einzelne dieser Comics erschienen zunächst im Verbund mit den beschriebenen Architekturmotiven und verknüpften sie näher mit der Wirklichkeit.
Reale Abbildlichkeit wie mögliche Bildhandlung wirken standardisiert, d. h. in eine feste, ästhetisch vorgegebene Form gepresst. Wie in den früheren Schaffensphasen greift Lehnert demnach nicht unmittelbar auf die Wiedergabe von gesehener Wirklichkeit zurück, sondern er schaltet abermals ein Zwischenglied ein, den Comic. Dessen leicht eingängiger, weil banaler und vordergründiger Ausdruck wird jedoch seiner angestammten populären Wirkung beraubt. Im Mittelpunkt steht nunmehr die kompositorische wie die mediale Verfügbarkeit. Seine räumliche Determiniertheit vermag eben auch Weite, wenn nicht gar in den figuralen Versatzstücken, und nur vordergründig, eine "Große Komposition" vorzugeben. Vor allem aber verbindet sich mit dem Comic in Lehnerts Bildern eine dschungelartige Rätselhaftigkeit, in die sich der Betrachter unversehens visuell wie emotional verstrickt. Vermeintlich eindeutige Sinnebenen werden zugunsten einer kompositorischen Notwendigkeit unterlaufen. So kann etwa ein pathetisch anmutender Gewehrschütze zwischen Zelten im Mittelpunkt eines Bildes stehen, ohne dass eine einheitliche räumliche Ebene gewahrt bleibt. Oder aber eine aufgestellte Leiter führt kompositorisch in eine Vielzahl von Bildmotiven ein. Diese kreisen alle um das Thema Natur, wenngleich sie keine linear zu lesende Bilderzählung beschreiben.
Lehnert konzipiert seine Bilder von zwei diametralen Polen aus. Einer fragmentierten Abbildlichkeit hält er einen kompositorisch strengen Ordnungssinn entgegen. Ein Prozedere, das in seinen Bildern augenscheinlich nicht abgeschlossen ist und daher niemals Endgültigkeit vorgeben kann.
Der Bildgrund als Ort dieses kontroversen Geschehens hat längstens seine angestammte Funktion als geschlossene Erzählbühne verloren, selbst wenn er sie in den Comic-Bildern noch immer vorgibt. Gerade deswegen erzeugen die einzelnen Comic-Motive eine inhaltliche wie formale Sogwirkung. Diese erweist sich zwar gegenüber einer linearen Bildhandlung als weit überlegen, doch läuft sie letztendlich ins Leere.
Daran ändern auch Lehnerts neuere Bilder nichts, obwohl sie nicht selten fast vollständig mit abbildlichen Erzählsträngen besetzt werden. Augenfällig wahrt der Maler Distanz. Will heißen: Er verfügt über eine Art von inhaltlicher, motivischer wie emotionaler Asservatenkammer, aus der er sich bedienen kann, ohne dass er sich auf eine individuell begründete, stringent vorgetragene Erzählhaltung einlässt.
Worauf es sichtlich ankommt, ist die auf serieller Wiedererkennbarkeit beruhende Stereotypik sowie eine kleinteilig-zusammenhängende grafische Struktur. Bestimmte Bildelemente, wie etwa das Zelt oder der ein Gewehr im Anschlag haltende Schütze, finden sich in zahlreichen Bildern als Versatzstücke. Darüber hinaus setzt Lehnert auf eine zwar grafisch einfache, aber dennoch aus Licht und Schatten bestehende optische ‚Beschaffenheit’. Abbildliche Formen haben ihre inhaltlich-beschreibende Wirkmächtigkeit zugunsten einer bildimmanent gedeuteten kompositorischen Notwendigkeit aufgegeben. Steine etwa beschreiben ebenso ein Stück Realität wie eine gedrängt wirkende Struktur. Der Umriss einer fast vollständig übermalten Hecke oder einer Baumgruppe bedingt in der Konsequenz eine freie, bewegte Linie.
Analog zu den bereits beschriebenen, bildnerisch bestimmenden Flächen ergeben sich kompositorisch gleichermaßen verwertbare, zusammenhängende wie gebrochen-realistische Gebilde. Diese legen sich wie eine grafisch ungebundene Struktur über die farbigen Flächen und erzeugen ein zunächst nur schwer zu entwirrendes und daher in seiner Lesbarkeit deutlich eingeschränktes, diaphanes Gefüge. Nicht etwa das narrative Moment ist Ziel der bildnerischen Handlung, sondern allenfalls eine kursorisch vorgetragene Sichtweise auf mögliche Wirklichkeit, die sich im Übrigen auf genuine Weise mit den Modalitäten des Bildes deckt. Unversehens werden die comicartigen Szenen zum bildnerischen Blockbuster einer sinnentfremdenden Handlung.
Als Maler verlässt sich Lehnert keineswegs ausschließlich auf die visuellen Kräfte des Bildes, sondern transformierte diese schon früh in einen Zustand des Übergeordneten, doch niemals in den des Beliebigen. Das Verhältnis zwischen Bild und Betrachter erreichte eine reflexive Ebene, die das Paradigma der klassischen Moderne, den als selbstverständlich erachteten Bedeutungsgehalt der bildnerischen Form, nachhaltig in Frage stellte. Lehnert schlägt ihn mit seinen eigenen Mitteln, indem er ebenso auf die selbstreferentiellen Kräfte des Bildes wie auf den Gegensatz zwischen Form und Leere abhebt. Zweifelsohne ein Spagat, wenn auch mit ausgleichendem Ergebnis. Obwohl der Betrachter sich in seinen Emotionen nicht länger an die Wirkmächtigkeit des Bildes gebunden fühlen kann, zieht sie ihn um so nachhaltiger in ihren Bann. Dies gilt gerade auch für die Nutzung comicartiger Bildformeln. Dabei findet Lehnert nicht nur eine bildnerisch begründete Balance, sondern definiert eine existenzielle Konstellation nachdrücklich unter Einbeziehung des Betrachters. Dieser wird in die Rolle eines aktiven Kommunikators gedrängt, wenngleich ihm die Wege zwischen äußerem Sehen und innerem Schauen, zwischen Erkennbarem und einer darüber hinaus reichenden metaphysischen Erfahrung, zwischen Transzendenz und Transzendentalem verschlossen sind. In Lehnerts antipodischer Bildstrategie bleibt dieses Schicksal jedoch erträglich. Dafür sorgt nicht zuletzt das sinnliche Erlebnis seiner Malerei.
Uwe Haupenthal
aus: Volker Lehnert. Gerüst. Geröll. Malerei 1989-2009. Ausstellungskatalog Richard-Haizmann-Museum Niebüll. Verlag der Kunst 2009
Redaktion: Sandra Kraemer
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