Zu den neuen Arbeiten Gabriele Langendorfs
Gabriele Langendorf beschäftigt sich in ihrem malerischen und zeichnerischen Werk seit vielen Jahren mit Räumen im weitesten Sinne. Ihre seriell konzipierten Bildfolgen setzen Bestimmungs- und Wahrnehmungskategorien von "Innen" und "Außen" mit der Dualität von Zivilisation und Natur auf subtile Weise miteinander in Beziehung. Physikalisch determinierte Räume und Lebensräume, geschlossene und offene Räume, architektonische und Landschaftsräume wurden so zum Gegenstand motivisch gebundener Werkgruppen: Hochhausfassaden, Hotelzimmer und private Schlafzimmer, Fensterblicke vom Raum in die Natur und vom Schiff hinaus auf das Meer, in die Umgebung. Und immer wieder Bilder von Schiffen in weitläufigen Wasserlandschaften – mobile, vielfältig nutzbare "Räume", doch auch viel mehr als das: Projektionsflächen unzähliger Assoziationen, Sinnbilder, Sehnsuchtsbilder.
In den Arbeiten von Gabriele Langendorf geht es um Räume, Orte und um deren Wechsel, um das Unterwegssein, das Er-Fahren von Topographie. Es geht damit um etwas, das ganz wesentlich den Menschen und sein Verhältnis zur Welt betrifft. Doch die menschliche Figur trat im OEuvre Gabriele Langendorfs bis vor wenigen Jahren nicht in Erscheinung. Die Auseinandersetzung mit Natur und den Lebens- und Wahrnehmungsräumen des Menschen wurde, der ursprünglich streng konzeptionellen Ausrichtung im Gegenständlichen folgend, ohne den Protagonisten geführt. Seit etwa 2003 lässt sich jedoch eine deutliche thematische Erweiterung und stilistische Neuorientierung im Werk der Künstlerin konstatieren. Es beginnt, sich breiter aufzufächern; Arbeiten auf Papier in unterschiedlichen Techniken gewinnen Raum als eigenständiges Medium und zur Erprobung neuer figurativer Bildlösungen. Die großformatigen Leinwandarbeiten sind von dieser Entwicklung nicht unbeeinflusst geblieben, sondern haben sich längst vom eng abgesteckten Motivkreis und den formalen Bindungen der Serie gelöst und beanspruchen Geltung als autonome Einzelwerke. War in den frühen Landschaftsszenen und Schiffsbildern die Abwesenheit des Menschen nicht mehr und nicht weniger als ein gegebenes Faktum, so gibt sie nun Anlass zur differenzierten Bildbefragung.
Exemplarisch hierfür steht die Arbeit "Brücke 1" aus dem Jahre 2005. Die im Hintergrund einer offenen, geometrischen Brückenkonstruktion im Nebel liegende Insel ist an Arnold Böcklins berühmte "Toteninsel" angelehnt, die zwischen 1880 und 1886 in fünf Fassungen entstand. Von dem abgeschiedenen, geheimnisvollen Ort im unbeweglichen, spiegelglatten Wasser geht eine melancholische, ja fast mystische Stimmung aus. Während bei Böcklin die angedeutete Bebauung mit in die Felsen eingelassenen Grabkammern auf das Reich des Todes verweist, das aus der Zeit herausgehoben scheint, deuten die Spuren der Zivilisation im Bilde Gabriele Langendorfs auf profane, dennoch nicht erschließbare Zusammenhänge. So ist der Betrachter unweigerlich geneigt, die gegenständlichen Versatzstücke, gleichsam stellvertretend für die nicht anwesenden Menschen, als Hinweise auf ein Geschehen zu interpretieren. Sind das Schlauchboot und das hinter den Felsen halb versteckte Zelt Hinweise auf Camper? Oder passieren hier andere, geheimnisvollere Dinge? Boot, Zelt und die nicht begehbare Brücke, die sich über die gesamte Szenerie spannt, nicht aber zur Insel führt, erscheinen im bildlichen Kontext als rätselhafte Elemente, ja als Störfaktoren, die die ursprünglich angelegte romantische Stimmung konterkarieren.
Oft spielt Gabriele Langendorf in ihren Landschafts- und Schiffsbildern mit den Grenzen und den Übergängen zwischen zwei Zuständen, mit denen verschiedene Assoziationen und emotionale Gestimmtheiten verbunden sind. Alles ist ruhig in diesen Bildern, die eigentlich von der Bewegung handeln, vom Sich-Fortbewegen zu Wasser und zu Lande, mit verschiedenen Vehikeln, mit Schiffen meistens, aber auch mit Wohnmobilen, mit Autos. Alles steht still – und alles kann jederzeit umschlagen. Nur der Punkt, wann dies geschieht, ist ungewiss. Es ist eine Ruhe in den Bildern, die beunruhigt. Sie liegt über der düsteren Insel mit den schemenhaft aus blass-blauer Dämmerung aufragenden Baumsilhouetten, über dem nebelverhangenen Riesenfrachter, der verhalten im durchscheinenden Sonnenlicht leuchtet und dessen Rumpf in roten Rostbächen zu zerfließen scheint, oder über der unheilvoll-schönen Szenerie des Petroltankers, dessen irreale Beleuchtung sich im grünlich-fahlen Licht seiner dunstigen, wie kontaminiert erscheinenden Umgebung fast gespenstisch aushebt. Es ist dieselbe Ruhe, die über dem verlassenen Frachtschiff liegt, das im rotbraunen, von silbrig schimmernden Öllachen durchzogenen Schlick seinem Verfall entgegensieht, und die die surreal anmutende Atmosphäre abendlicher Landstraßen erfüllt, auf denen kein Verkehr herrscht, wo nur die Umrisse eines einsamen Campingwagens neben denen einer wartenden Frauengestalt am regennassen Straßenrand auftauchen, oder ein liegen gebliebener, vielleicht von den Insassen verlassener Sportwagen die Fahrbahn versperrt.
Wie für Arnold Böcklin, der sich auf die Frage nach der Bedeutung seiner "Toteninsel", die implizierte Behauptung vorausnehmend, ausdrücklich dagegen verwahrte, "Bilderrätsel" zu malen, so gilt auch für Gabriele Langendorf, dass sie ihre Bilder nicht als Rätsel im anekdotischen Sinne anlegt. Doch die Rätselhaftigkeit ist durchaus intendiert, ja sie eignet diesen Bildern wesenhaft an. Nicht das, was in ihnen geschieht, ist das Rätsel, sondern das, was nicht geschieht. Geschichten, die unerzählt bleiben inmitten landschaftlicher Leerräume und weiter Wasserflächen, Geschichten, die vielleicht gar nicht existieren, vermuten wir sie doch nur hinter den Dingen, die auf die Abwesenheit des Menschen verweisen und gerade darum ein irritierendes Moment darstellen, welches das Idyll fragwürdig werden lässt.
Gabriele Langendorfs atmosphärisch aufgeladene, durch farbige Lichtstimmungen oft ins Überwirkliche gerückte Szenerien erinnern vielfach an Landschaftsdarstellungen und Seestücke, wie sie in der Romantik durch Caspar David Friedrich oder William Turner, teilweise auch schon in der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts, etwa bei Jan van Goyen oder Aelbert Cuyp, formuliert wurden. Die Auffassung von Landschaft als Metapher und Ausdrucksträger subjektiver Empfindung berührt sich eng mit den kunsthistorischen Vorbildern, wird jedoch bereits im Moment ihrer bildlichen Manifestation durch subtile Störungen unterwandert. Das Idyll ist trügerisch, der romantische Sehnsuchtsort unsicheres Terrain. Ein bedrohter Ort – ein Ort der Bedrohung?
Die Störung beginnt bei der Malweise. Auch hinsichtlich der künstlerischen Technik führt Gabriele Langendorf in ihren Bildern immer wieder absichtsvoll Brüche herbei. Malerische, Licht modellierende Partien wechseln mit glatten Farbaufträgen ohne erkennbaren Duktus, dann wieder mit gestischfreien Strukturen oder mit Zufallsergebnissen, wie ausgedehnte Fließspuren oder schimmelartige Trocknungsspuren der Farbe, die bisweilen auch Anlass für gegenständliche Bildentscheidungen werden. Die Erscheinungsweise der Bildgegenstände wird auf diese Weise oft merkwürdig ambivalent, da die Zufallsstrukturen die Stofflichkeit des Wassers oder die Faktur rostig-maroder Oberflächen wirklichkeitsnah zu "imitieren" scheinen, der sichtbar gemachte Malprozess die illusionistische Wirkung aber zugleich wieder aufhebt. Materialität und Form, Bildfläche und virtueller Raum befinden sich in einem permanenten Spannungsverhältnis.
Häufig kombiniert Gabriele Langendorf malerische mit zeichnerischen Elementen, die Raumlinien, Bäume, einzelne Gegenstände und - neuerdings - auch Figuren andeuten. Langsam, sehr langsam findet die menschliche Gestalt wieder Eingang in Langendorfs Malerei. Nur zögernd und noch schemenhaft nähern sich die Figuren den Bildwelten, erproben ihr neues Wirkungsfeld in den großen Leinwandarbeiten bislang kaum wahrnehmbar als Silhouette am Straßenrand oder als weit entfernt in einer überfluteten Nebellandschaft schwimmende Taucher. Als Wegbereiter und Vorboten hat die Künstlerin ihnen die Figuren vorausgeschickt, die in den letzten Jahren ihre Arbeiten auf Papier bevölkern. Bereits seit 2003 entstehen Bleistiftzeichnungen und Ölkreidearbeiten, die sich mit der Figuration befassen und mit denen nicht nur ein neues Sujet in Langendorfs Werk Raum greift, sondern sich auch ein Moment der Ironie manifestiert, eine neue Form von bildnerischem Witz, die in der jüngsten Werkgruppe mit dem programmatischen Titel "Atmosphärische Störungen" lakonisch auf den Punkt gebracht wird.
Die Figuren sind für ihren Auftritt gerüstet. In gelbes Ölzeug gehüllt und mit Fernglas ausgestattet, erscheinen sie in der Serie "Dunststücke" auf der Bildfläche, umgeben von dichtem Nebel, der sich in kaltfarbigen, milchigen Kreideschichten wie ein atmosphärisches Medium über die Darstellung legt und nichts von der Umgebung sichtbar werden lässt. Suchend, Ausschau haltend, etwas unschlüssig und etwas ratlos warten sie auf das, was geschieht. Vielleicht auf besseres Wetter, wie Touristen am Nordseestrand. Vielleicht auch auf ihren Einsatz oder auf das, was die Künstlerin künftig mit ihnen vorhat. Fast will es scheinen, als versinnbildliche sich in den Figuren der "Dunststücke" die Rückkehr der Figur in die Malerei Gabriele Langendorfs. Ihre Begegnung mit der Natur in diesen Bildwelten muss erst Konturen gewinnen, erfordert Stehvermögen, Weitblick und ganz offensichtlich besondere Vorsicht, denn sie ist nur in Schutzkleidung möglich.
Als riskantes Unterfangen stellt sich die Begegnung mit der Natur in einer Gruppe vielfiguriger Landschaftsszenen dar, in denen sich die Welt von Freiheit und Abenteuer im Miniaturformat präsentiert. "Pausen" nennt Gabriele Langendorf nicht ohne Hintersinn diese Zeichnungen, deren Motive sie aus Reisekatalogen auf Transparentpapier kopiert, um sie zu neuen Konstellationen in neuer Umgebung zu montieren. Diese Methode des Zugreifens auf fremdes Material und seiner unmittelbaren Verwertung lässt einen spielerischen Umgang mit den Bildmotiven zu und trägt in vielen Darstellungen zu einer Erweiterung der erzählerischen Spannbreite bei. Denn das Bildreservoir, aus dem sie sich bedient, ist nahezu unerschöpflich, zugleich aber auch sehr viel beliebiger als eigene Fotovorlagen oder Skizzen. Menschen auf Abenteuerurlaub, bei erlebnisorientierten Outdoor- Aktivitäten, ausgerüstet mit Trekking-Utensilien, Neoprenanzügen und Schwimmwesten, die in Booten, mitunter auch wandernd Landschaftsräume fernab der Zivilisation erkunden, werden hier gleichzeitig zu Akteuren und zur Staffage einer Szenerie, die ebenso gut unter anderen Vorzeichen interpretiert werden kann: nicht als simulierte Gefahr bei touristischen Naturexpeditionen, sondern als reale, existenzielle Bedrohung. Beide Lesarten werden ununterscheidbar. Der kleine Maßstab, der nicht nur die Erkennbarkeit der in sich stark verdichteten Zeichnungen erschwert, sondern die gesamte Thematik ironisch untergräbt, tut ein Übriges, um alle Deutungen offen und die Verwirrung konstant zu halten.
Die ironische Brechung durch das kleine Format ist auch bei den seit 2009 entstandenen Arbeiten der Serie "Atmosphärische Störungen" charakteristisches Stilmittel, doch resultiert sie hier aus dem proportionalen Missverhältnis zwischen der Figur und der ihr zugeordneten Tätigkeit. Die knappen, spontan formulierten und überaus dynamischen Bildszenen, die sich meist auf eine einzelne Figur beschränken, erinnern in ihrer Prägnanz und ihrer pointierten Komik an Cartoons, referieren jedoch auf Bedingungen der Malerei, indem sie den Malvorgang selbst zum Anlass des figürlichen Bildgeschehens machen. Gestische Farbspuren, während des Malens entstandene Zufallsprodukte, die hier eine neue Verwendung finden, initiieren skurrile Bildgeschichten, in denen Figuren auf die malerische Geste reagieren und das informelle Farbgeschehen gegenständlich umdeuten: Eine Gestalt im Taucheranzug stürzt sich in eine wellenförmige Pinselspur, Arbeiter mit Helm und Anglerhosen ziehen einen Absaugschlauch aus blau-grauen Farbschlieren, eine Figur im Overall mit Handschuhen und Mundschutz hantiert an einem streifenförmigen Muster und ein Feuerwehrmann im roten Signalanzug robbt bäuchlings durch ein Farbloch. Stets sind die Figuren in Schutzkleidung bei rätselhaften technischen Verrichtungen zu sehen, die auf Arbeits- und Noteinsätze bei "Störfällen" hindeuten: bei Natur- und Umweltkatastrophen, Wetterschäden und Unfällen oder beim missglückten Versuch, sportliche Herausforderungen mit hohem Gefahrenpotential zu bewältigen. Die Kleinheit der Figuren in Relation zu der vermeintlichen Wichtigkeit ihrer Aufgabe, der absurde Bedeutungsmaßstab von menschlicher Figur und malerischer Geste, an der sie sich abmüht, konterkarieren jede Sinnhaftigkeit.
Durch die Hintertür der Ironie wird die Figur in die ehemals menschenleeren Bildwelten Gabriele Langendorfs eingeschleust. Sie eröffnet vielschichtige Sinnbezüge und neue Möglichkeiten der bildnerischen Auseinandersetzung mit dem komplexen Verhältnis von Zivilisation und Natur. Die Figur erscheint – auch da, wo explizit ihre Abwesenheit thematisiert wird – als Metapher existenzieller menschlicher Grunderfahrungen, indem sie Abgrenzungen und Verbindungen von Innen- und Außenraum wahrnehmbar macht. In den Arbeiten der Jahre 2003 bis 2010 ist Gabriele Langendorf eine überzeugende Neuinterpretation des traditionellen Landschaftsthemas gelungen, das sie mit der aktuellen Zeitproblematik und den drängenden Fragestellungen um die Bedrohung von Natur und Umwelt, Landschafts- und Lebensräumen, und um die Beherrschbarkeit von Technik beziehungsreich verknüpft. Die subtil eingesetzte Ironie schafft Distanz – zur Tradition der Landschaftsmalerei und der Figuration wie auch zum Ernst der Thematik. Die "Störungen" in den Arbeiten von Gabriele Langendorf werden so zum Vehikel für Bedeutung.
Nicole Nix-Hauck
Redaktion: Sandra Kraemer
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