Das künstlerische Werk von Ullrich Kerker schöpft verschiedenste druckgrafische Möglichkeiten aus, erstreckt sich über ein breites Repertoire an Zeichnungen, Frottagen, Faltungen und unternimmt gelegentlich Ausflüge ins Malerische. Ullrich Kerker ist ein aufmerksamer, wenngleich zurückhaltender Beobachter, ein Entdecker: „Schreiben, zeichnen, bezeichnen, schneiden, ritzen, ätzen, drucken. Verdichten, schwärzen, schleifen, löschen – und immer wieder die Überraschung beim erneuten Abzug des Papiers vom Druckstock. Bei allen Stationen dieses Prozesses sind Kopf & Hand nicht zu trennen; häufig entwickelt sich der Einfall erst beim Machen”, sagt Ullrich Kerker. (Ullrich Kerker. In: HBKsaar. Saarbrücken 1999, S. 76)
Im Sinne dieses „Machens” ist das Studium der freien Kunst die unabhängigste Phase seines Schaffens. In Daniel Hees findet er an der Düsseldorfer Akademie einen wichtigen Ratgeber, der ihm auch die Kunstpädagogik nahe bringt. In dieser Zeit entstehen viele Zeichnungen und druckgrafische Zyklen, in denen sich Kerker u.a. mit Texten auseinandersetzt. Zu seinen frühen Arbeiten zählen Künstlerbücher, wie die 1978 erschienenen “Tessiner Zeichnungen”, wie die Kunsthistorikerin Rita Eschle beschreibt: “Auf festem Papier gedruckt und selbst gebunden, sind die Einzelblätter in einer Auflage von 100 Exemplaren zusammengefasst. Vor dem Hintergrund einer Reise ins Tessin entstehen seismographisch skizzierte Seherlebnisse, die das subjektive Erleben von Landschaft wiedergeben. In bewegter, pointiert reduzierter Strichführung werden Momentaufnahmen von Baumgruppen, Felsformationen und Weitsichten von Landschaft dargestellt.” (Rita Eschle, 2021, handschriftliche Notiz)
Das grafische Schaffen verläuft fortan parallel zur Lehrtätigkeit von Ullrich Kerker, wobei die Vermittlung handwerklicher Fertigkeiten, Inspiration und Bildfindungsprozesse bisweilen das eigene Schaffen beeinflussen: „Ich finde es immer sehr interessant und spannend, dass selbst bei den Grundkursen der Druckgrafik, auch nach vielen Jahren, immer wieder neue, überraschende Ergebnisse entstehen: Diese Erfahrung hat mich häufig in der Folge angespornt, angeschoben, etwas Eigenes zu entwickeln.” Dabei bedeutet das Drucken für Ullrich Kerker mehr als simple Reproduktion – ihm geht es um das einzelne Blatt: “In der Druckwerkstatt ist es immer so, dass man sich auf einem Weg befindet, dessen Ende offen ist.” Der druckgrafische Prozess verläuft nicht unbedingt gradlinig, sondern auch auf Neben- und Umwegen.
Ein Großteil seiner Arbeiten beginnt am Schreibtisch und setzt sich mit den drucktechnischen Möglichkeiten im Atelier fort. Unterwegs oder auf Reisen bedient er sich zeichnerischer Mittel: In der Natur sammelt er Eindrücke z. B. in einer flüchtigen Bleistiftzeichnung oder einer Schraffur. Manche Entdeckung fasst er in einer begrifflichen Notiz. Meist bewahrt er Beobachtungen im Sinn, um sie später intuitiv in einen Werkprozess einfließen zu lassen. Vieles legt er in sogenannten “Sammelsurien” ab. Sie umfassen Zeichnungen, Fragmente und Gedankenfetzen: Papiere, an deren Rändern die Druckfarbe beim Auswischen spannende Formzusammenhänge hinterlassen hat oder flüchtig gekritzelte Stichworte, die ihn an witzige oder irritierende Begebenheiten erinnern. Kerker skizziert Bilder und Worte, Auflistungen oder Zahlen. Diese visuellen Notizen oder Miniaturen spiegeln wieder, was den Künstler zum Schaffen inspiriert: die Lust am Entdecken und die Gabe, sich von einem Moment überraschen zu lassen.
Die Arbeiten Ullrich Kerkers sind meist unbetitelt. Das Material, dessen Eigenschaften und sorgfältige Auswahl bildet einen zentralen Aspekt – die Haptik von Papieren etwa, wie die raue Oberfläche und unregelmäßige Kontur eines Bogens handgeschöpften Büttens oder die fragile Stofflichkeit gealterter Papiere. Zugleich verspürt Ullrich Kerker Respekt vor dem weißen Blatt, ebenso wie vor einer blank polierten, unberührten Radierplatte. Ihn fasziniert der ursprüngliche Zustand der Leere, die von dem unbezeichneten Blatt ausgeht: „In alten Atlanten finde ich immer die weißen Stellen, wo einfach nichts ist, am abenteuerlichsten. Da lässt sich alles hineindenken, da sind keine Wege, keine Straßen, keine Städte, da ist einfach gar nichts, irgendwo ein Placken Weiß.”
Das leere Blatt
Das, was du jetzt in der Hand hältst, ist beinah weiß, / aber nicht ganz; etwas ganz Weißes gibt es nicht; / es ist glatt, hart, zäh, dünn, und gewöhnlich knistert es, fließt, knirscht, reißt, beinah geruchlos; / und so wie es ist bleibt es nicht; es bedeckt sich mit Lügen, saugt alle Schrecken auf, alle Widersprüche, / Träume, Ängste, Künste, Tränen, Begierden; / bis sie getrocknet sind, vergilbt, stockig, grau; bis es aufweicht, im Regen, zerfällt, im Müll, / immer weniger wird; nur das beste vielleicht / – an dem, vielleicht, das was keiner geschrieben hat das Beste ist ein Fisch, ein Salzfaß, ein Stern, / ein Einhorn, ein Elefant oder ein Ochsenkopf, / Zeichen des Heiligen Lukas; das, was erscheint, / Wenn du es gegen das Licht hältst – hält, / vielleicht, tausend Jahre, oder noch eine Minute.
Hans Magnus Enzensberger (aus: Zukunftsmusik. Berlin 1991)
Kerker sucht auch unkonventionelle Wege, der Unberührtheit des Blattes zu begegnen, wenn er beispielsweise ein Papier zuerst faltet, zerknüllt oder einen zu Boden gefallenen, bereits beschriebenen Bogen oder auch nur einen Schnipsel wählt, um einen Einstieg in den kreativen Prozess zu finden. In der Zeichnung bedient er sich des Zufälligen. Er lässt den Blick aus dem Atelierfenster schweifen, während das Zeichenwerkzeug über das Papier huscht – Gesehenes aufgreifend, aber nicht abbildhaft übertragend. Sind die ersten Zeichen auf das Blatt gesetzt, findet der Blick des Künstlers einen Anknüpfungspunkt, an dem er eine Bildidee entspinnen kann.
Der Ursprung des künstlerischen Handelns ist bei Ullrich Kerker im Zeichnen und Schreiben begründet: Es reicht von Bleistift-, über Kohle-, Graphit-, Buntstift- bis hin zu Federzeichnungen und prägt vielleicht auch seine Vorliebe für das kontrastreiche Schwarz und Weiß. Manche Zeichnungen fertigt er beidhändig oder verwendet ein ganzes Bündel zusammengefasster Stifte in einer Hand. Häufig zeichnet er auf kleine bis mittlere Formate oder auf Postkartengröße. Vereinzelt aquarelliert er Gezeichnetes, teils mit abbildhaften Anklängen, wie die farbige Kontur einer Zitrone, teils in freien Formfindungen, die Ansammlungen von Tupfen, Liniengeflechte oder Muster zeigen. Oft entstehen zusammenhängende Reihen. In den beidhändig ausgeführten Zweihandzeichnungen ziehen die Linien spiegelsymmetrisch in sich ähnelnden, aber niemals identischen Bewegungen über das Papier. Formzusammenhänge ergeben sich wie gewundene Wege, die sich kreuzen, zu Konzentrationspunkten verdichten, um wieder auseinanderzustreben. Mit den Fingerspitzen beider Hände zeichnet er auch eine Reihe von Monotypien (2006), die beispielsweise die Form einer Frucht paraphrasieren. Ganz anders bringt Ullrich Kerker die Monografie in einem vierteiligen Ensemble stark hochformatiger Walzendrucke (1995) zum Einsatz. Bei diesen Blättern spielt er mit dem zum Teil mehrfachen Abdrucken einer geschwungenen, spitz zulaufenden Glasscherbe und bringt das Motiv symmetrisch gespiegelt, in der Ausrichtung verändert oder leicht versetzt zu Papier. Die Monotypien stehen, bedingt durch die limitierte Möglichkeit eines Abzugs, den Zeichnungen vielleicht am nächsten. Alle übrigen Druckverfahren ermöglichen mehrere Exemplare eines Bildmotivs. Kerker nutzt sowohl einfache Techniken des manuellen Abdruckens, wie den Stempeldruck oder das Abrollen mit einer Handwalze, als auch aufwendige Druckverfahren.
Die Veränderung als Gestaltungsprinzip fasziniert ihn: das Verflüchtigen der Farbe, aber auch die Formänderung des Druckstocks. Kerker nutzt häufig Pappe oder Papier in ausgeschnittenen, gerissenen oder vorgefundenen Formen als Farbträger, der knicken oder sogar reißen kann. Dickere, offenporige Pappe weicht beim mehrmaligen Einfärben auf, obere Materialschichten beginnen sich abzulösen. Leerstellen und weiße Flecken führen über Transformationen bis hin zur Auflösung des Motivs.
Drucke von Holz oder Linol hingegen zeigen weniger starke Abweichungen. In seinen Linolschnitten thematisiert Kerker oft den Gegensatz einer tief schwarz gedruckten Fläche oder Form zum Weiß des Bildgrundes. Mal erscheint das Weiß als fein geritzte Linie, mal gräbt es sich in einer breiten Spur mit ausgefranster Kontur in die dominante schwarze Fläche, zerschneidet die Komposition wie ein jäher Riss von oben nach unten oder hinterlässt im Schwarz ein markantes Zeichen (o.T. 1997). Die Holzschnitte zeigen häufig auffällige Oberflächenstrukturen, beispielsweise eine Holzmaserung oder die groben Fasern einer Pressspanplatte. Manches hölzerne Fundstück belässt er unverändert in der ursprünglichen Form, die z.B. an die Gestalt eines schmal geformten Fisches erinnert oder er sägt aus einer Platte ein Motiv aus.
Die Mappe „Der Asphaltgarten des Jehan Ango” aus den Jahren 1993/1994 umfasst 18 Aquatintaradierungen, die Kerker auf gefalteten Bögen platziert, sowie einen Zweizeiler der Grabinschrift des Seefahrers. Auf einer Reise durch die Normandie findet der Künstler die Inspiration zu der imaginären Seefahrergeschichte, welche er dem normannischen Abenteurer Jehan Ango widmet. Die Radierungen lassen vor grob gekörntem, schwarzem Hintergrund Bilder entstehen, die an Gestirne, bewegte Ozeane und sich zusammenbrauende Stürme oder das Aufsteigen der Sonne aus dem Meer denken lassen, zeigen aber ebenso Fantastisches, Unbeschreibbares, wie eigentümliche Zeichen und Spuren oder Wesen: „Als wir in der Umgebung von Dieppe in der Normandie unterwegs waren, kam mir der Gedanke während einer Wanderung entlang der Küste, die sehr schroff und sehr imposant von hohen Wellen umspült war. In der Stadt selbst gibt es eine wunderschöne alte Kirche, in der sich das Grab des Seefahrers Jehan Ango aus dem 16. Jahrhundert befindet. Der Titel Asphaltgarten erklärt sich aus dem Material des Aquatintakornes, nämlich Asphalt, mit dem man die Radierplatten bestäubt, und den Gedanken an einen imaginären Garten.”
Andere Mappenwerke spiegeln Kerkers Interesse an den Buchstaben als visuelle Zeichen wider. Gerne setzt er kleinere Texte selbst in Bleisatz. Rita Eschle schreibt: „Einige der handgepressten Grafikeditionen sind in Form der Visuellen Poesie gestaltet. Dabei erfährt jede Edition eine eigenständige Intermedialität von literarischem Text und grafischer Gestaltung. Die visuelle Gestaltung der Dichtung steht im Vordergrund. Der Künstler bewegt sich hier im Grenzbereich zwischen Poesie und Bildender Kunst. Die Sprachmittel selbst werden zur gestalteten Größe.” (Rita Eschle, 2021, handschriftliche Notiz)
Ein klassisches Druckmedium ist die Lithografie, die im 19. Jahrhundert zur Reproduktion von Schriften und Noten genutzt wurde und heute ein fast ausschließlich künstlerisches Ausdrucksmittel darstellt. Ullrich Kerker greift in seinen Lithografien Bildgedanken auf, die auch seine Zeichnungen oder Linolschnitt beeinflussen. Die Linie, die unstet suchend, stakkatoartig abgesetzt, krakelig, in unzähligen Anläufen über die Fläche verläuft, bildet beispielsweise ein wichtiges Ausdrucksmittel. „Als Student in Düsseldorf und später auch zu Beginn meiner Zeit in Saarbrücken habe ich sehr gerne lithografiert. Die Lithografie als Flachdruckverfahren, bei dem Druckendes und Nichtdruckendes auf einer Ebene liegt, ist eine sehr interessante Technik. Der Druck ist technisch aufwendig, kompliziert und körperlich anstrengend beim Schleifen der schweren Steine und dem anschließenden Drucken. Der Druck mit steinernen Druckplatten beruht auf der gegensätzlichen Wirkung von Fett und Wasser. In den Möglichkeiten der Bearbeitung ist die Lithografie sehr vielfältig: Man kann mit allem, was Fett beinhaltet, auf den Stein zeichnen, mit einem Stift und Tusche, mit der Feder, mit Kreide, man kann auch die Hand oder andere Materialien in Fettfarbe tauchen und abdrucken, sogar in einem mühsamen Verfahren Elemente wieder entfernen, indem nur oberflächlich mit einer leichten Säure der Fettgrund zerstört wird. Auch mit Studierenden habe ich gerne in der Lithografie gearbeitet, wenngleich das Verfahren heute zu den anspruchsvollsten und zeitaufwendigsten gehört. Seit es den klassischen Ausbildungsberuf des Steindruckers nicht mehr gibt, droht das Wissen um die Lithografie verloren zu gehen und hat sich auf die Anwendung an künstlerischen Hochschulen konzentriert.”
2008 widmet sich Ullrich Kerker großformatigen Tuschebildern. Wenngleich diese Arbeiten sehr malerisch anmuten, betrachtet er insbesondere die schwarz-weißen Bilder aus dem Blickwinkel des Zeichnerischen. Er spielt in den ausschließlich querformatigen Werken auf das Motiv des Horizontes an. Die farbintensiven Bilder umschreiben wogende Farbströme, die sich wie Meereswellen in Strudeln sammeln, zu schäumenden Kronen aufbäumen, um wieder sanft zu verebben. Vom Aspekt des Malerischen sind den Tuschebildern die farbigen Tauchbilder (ab 1993) oder „Farbläufe” nahe. Die Begriffe „tauchen” und „laufen”, im Sinne von „verrinnen”, umschreiben anschaulich den Entstehungsprozess dieser Blätter. Ullrich Kerker löst Farbpigmente in großen Mengen Wasser, um Büttenpapiere darin einzutauchen oder die Farbe über das Blatt rinnen zu lassen. Die durchscheinenden Farbflächen geben in ihrer freien Formfindung den Aspekt des Fließens von Wasser und von Farbe wieder. Die Inspiration zu diesen Farbexperimenten findet Ullrich Kerker während eines Venedig-Aufenthalts: „Ich versuchte, ein Fließen und Fluten der Farbe zu bewirken, indem ich das Papier durch unterschiedliche Hand-Habungen in die Flüssigkeit eintauchte und heraushob. Sichtbar bleiben die Spuren eines Farb-Meeres auf der lebendigen Oberfläche des kräftigen Büttenpapieres.” (Kerker, Edition Laboratorium, 1995) In der durchscheinenden Transparenz der fließenden Farbe thematisiert Ullrich Kerker das Motiv der fortwährenden Bewegtheit, des sich Veränderns, der Verflüchtigung, die bis hin zur Auflösung reicht – ein Phänomen, welches ihn zeitlebens umtreibt und das Wesen vieler seiner Arbeiten begründet: „Das war für mich schon immer eine verrückte Geschichte: Ich habe mich früher als Jugendlicher irgendwo ins Gras auf den Rücken gelegt und in die Wolken geguckt. Ich habe die Wolken vorbeiziehen lassen und dann waren manche plötzlich weg und es waren ganz andere da. Es ist faszinierend und man kann das Phänomen nicht exakt beschreiben – wenn man es nur mit Worten fassen könnte, bräuchte man es nicht zu zeichnen...”
Die Werke Ullrich Kerkers wollen nicht beschrieben, sondern betrachtet werden und es gibt viel darin zu entdecken. Jedes einzelne Blatt erzählt seine Geschichte und jeder Blick darauf ist anders – Gedanken verändern sich, entschwinden und neue entstehen.
Sandra Kraemer
Die Zitate von Ullrich Kerker beziehen sich auf Gespräche mit der Verfasserin im Juni 2021.
gemeinsam mit Prof. Wolfgang Nestler und Studierenden der HBKsaar
gemeinsam mit Prof. Jo Enzweiler und Studierenden der HBKsaar
gemeinsam mit Prof. Sigurd Rompza, Dirk Rausch und Studierenden der HBKsaar
gemeinsam mit Prof. Gabriele Langendorf, Dirk Rausch und Studierenden der HBKsaar
Redaktion: Sandra Kraemer, Rita Eschle
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je Kunstwerk | 50 € | 30 € | 80 € |
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