Von Anfang an beschäftigt sich Vera Kattler in ihrem künstlerischen Werk mit dem Tier. Dabei geht es ihr nicht um eine detailgetreue, wiedererkennbare Abbildung eines individuellen Vertreters der jeweiligen Spezies, sondern um das Animalische schlechthin, um das, was das Wesen Tier für uns ausmacht.
Bereits in ihrer Diplomarbeit aus dem Jahr 2005 widmet sie sich diesem Thema in unterschiedlichen Medien: in Gemälden von Kühen, Lamas und Schafen, in Kohlezeichnungen von Schimpansen und in einer Videoinstallation, in der sie das Verhalten eines Tapirs in den Blick nimmt. Um Besonderheiten des jeweiligen Tieres hervorzuheben, nutzt sie unkonventionelle Ansichten. In ihrer Malerei entwickelt sie das Motiv aus der Farbe heraus, die sie bereits zu dieser Zeit teilweise mit den Fingern aufträgt, um einen unmittelbaren Bezug zu ihrem Gegenüber aufzubauen. Das Tierbild wird mit dem Farbmaterial geradezu modelliert und erhält dadurch plastische Qualitäten. Kattler erreicht auf diese Weise eine sehr malerische und zugleich haptische Schilderung des Organischen. Der Blickwinkel auf das Tier sowie die Wahl des Bildausschnitts sind ungewohnt und originell. Die Künstlerin rückt ihrem Modell oft sehr dicht auf den Leib, fängt von ganz nah, gegebenenfalls gar aus der Untersicht, momentane Haltungen und Eindrücke mit der Kamera ein. Die Fotos dienen ihr später als Ausgangspunkt für ihre freien malerischen Interpretationen. Ihre Gemälde zeigen farbgetränkte Individuen, die mit wenigen Details aus dem Kontext des indifferenten Farbraumes herauswachsen. So kennen wir Tiere bislang nicht. Sie sind selbstverständlicher Teil des Ganzen und doch sehr außergewöhnlich.
Die malerisch verwischten Kohlezeichnungen lassen in skizzenhafter Form Details von Schimpansen erkennen, die dicht nebeneinander präsentiert ein rhythmisch bewegtes Gesamtbild dieses Tieres wiedergeben. Vera Kattler versucht, zeichnerisch Charakterzüge einzelner Individuen wie auch typische Merkmale der gesamten Affenart in ihrer Vielfalt zu ergründen. Schon hier erarbeitet sie ihr Thema seriell, eine Methode, die sie in der Folgezeit als künstlerische Herangehensweise beibehalten wird.
Zunächst bleiben Säugetiere das wichtigste Sujet in ihren Bildern. Das warme, wollige Fell beispielsweise interessiert die Malerin, das nicht in der Farbe wiedergegeben sein muss, die wir vom realen Tier her kennen, das vielmehr Farbreflexionen der Umgebung widerzuspiegeln scheint. Die Farbveränderung bindet das Tier in sein Umfeld ein und verfremdet zugleich das uns vermeintlich Wohlbekannte. Ein merkwürdiges Wesen schaut uns entgegen, herausfordernd, bedrohlich oder ängstlich. Über den Blickkontakt fordert es uns zur Kommunikation auf. Kattlers Tierbilder sind Porträts, die spezifische Eigenschaften festhalten, eine gewisse Zaghaftigkeit etwa, selbstbewusstes Dasein, physische Stärke oder Angriffslust. Mit klischeehaften Vorstellungen oder sentimentalen Verharmlosungen haben sie nichts zu tun. Immer gibt es auch eine abgründige, schwer einzuschätzende Seite der Lebewesen.
„Seltsam vertraut“ - dieser doppeldeutige Ausstellungstitel aus dem Jahr 2008 benennt die Polarität, die alle Tierporträts der Künstlerin ausstrahlen: Das andere Wesen, zu dem wir uns auf unbegreifliche Weise hingezogen fühlen und das uns vertraut erscheint, bleibt uns in gewissen Zügen immer fremd. Das liegt sowohl am anderen als auch an uns selbst. Das seltsam Vertraute erfüllt uns mit Unbehagen. Nicht alles lässt sich erklären und rationell einordnen. Viele ihrer Titel umkreisen den Aspekt des Undurchsichtigen und Mehrdeutigen: „das kleine Monströse“, „nahezu menschlich“, „Rattenkönig“, „Tierverschwindung“, „Krähenformung“ - alles Umschreibungen verstörender Metamorphosen.
Die Werkgruppe der „reptilienaugen“, erstmals präsentiert auf der Landeskunstausstellung 2008, irritiert durch explizit ausgewählte Details. Bunt schillernde, schuppige Haut, farbige Augäpfel und dunkel starrende Pupillen kristallisieren sich als identifizierbare Motive aus dem Sinnestaumel reiner Farbgestaltung. Bei aller ästhetischen Verlockung muss man als Betrachter den glupschenden Blick allerdings aushalten können. Auch die 120-teilige, 2006 entstandene Serie der „Schwimmübungen“ unterliegt, koloristisch zurückgenommen, den gleichen Prinzipien. Wie die Wandinstallation methodisch Lücken mit einkalkuliert und die Einzelbilder beinahe zufällig in Erscheinung treten lässt, tauchen in den Bildern selbst Köpfe von Flusspferden an der Oberfläche des graublauen Wassers fragmentarisch empor. Es fällt schwer, die Motive exakt zu bestimmen. Manche Gestalten ähneln Fischen, andere eher Säugetieren mit spitzen Schnauzen. Alle sind mit Augen versehen, die uns entschieden anstarren.
Eine zentrale Rolle in Kattlers Werk spielen Darstellungen von Menschenaffen. Sie kehren als Motiv immer wieder. Ab 2011 verschmelzen die markanten, sehr eindringlichen Physiognomien malerisch stärker mit dem Bildgrund. Wie eine Imagination keimen sie aus flackernden, von Dunkelheit durchwobenen Farbschleiern auf und verursachen trotz der unbestreitbaren Faszination, die sie auf uns ausüben, ein tief beunruhigendes Gefühl. Der Bildausschnitt konzentriert sich auf das Gesicht der Affen, deren Augen uns beschwörend fixieren. Die geringe Distanz bedingt eine ungewöhnlich starke Präsenz dieser Hominiden. Ihrer hypnotischen Macht lässt sich kaum entrinnen. „nahezu menschlich“ (Ausstellungstitel von 2013) wirken diese Porträts: Unsere Gemeinsamkeiten liegen ebenso auf der Hand wie die beklemmende Gewissheit der Andersartigkeit. Ein ähnliches Befremden schleicht sich in den wenigen Bildnissen von Menschen ein, an die sich die Künstlerin bisher heranwagte. Neben den gemalten Bildern nähert sie sich auch in Kohlezeichnungen mehrfach den Primaten, 2009 in einer Serie von 147 Gorillas in sehr nah herangezoomten, oft skurril oder unheimlich anmutenden Detailansichten mit hohem Abstraktionsgrad oder 2011/12 in formatfüllenden, stärker realistischen und von Dunkelheit dominierten Porträtdarstellungen derselben Gattung.
2010 entdeckt Vera Kattler eine andere, weitaus unscheinbarere, jedoch die artenreichste Ordnung der Säugetiere als Sujet künstlerischer Auseinandersetzung, die Nagetiere, die sie kontinuierlich zu einer wahren Horde erweitert. In Öl auf Papier gemalt, umfasst sie Hamster, Ratten, Mäuse und – bewusst ambivalent - sogenannte „Wandelwesen“, die keiner bestimmten Familie zugerechnet werden können. Anders als in den Leinwandbildern sind die Motive in den Papierarbeiten nicht eingebunden in einen übergreifenden Kontext, sondern sitzen isoliert im Zentrum des leeren Blattes. Farbflecken und Fingerabdrücke bezeugen die Spontaneität des Entstehungsprozesses. Kattler malt immer noch, zumindest teilweise, mit den Fingern oder mit dem Pinselstiel. In rascher Folge entwickelt sie mehrere Variationen desselben Tieres als eigenständige Reihe. Die Bilder umreißen verschiedene Aspekte des Animalischen, entfernen sich dabei zunehmend vom Modell, werden freier und vieldeutiger.
Weit weg von einer verniedlichenden Darstellung der kleinen, flinken Tierchen legt sie den Schwerpunkt auf das Unberechenbare und Gefährliche, auf „das kleine Monströse“ (Ausstellungstitel von 2012). Während des schnellen Malvorgangs kommt es häufig vor, dass ihr der Pinsel ausrutscht und Spuren aufs Blatt setzt, die ursprünglich nicht beabsichtigt waren. Kattler akzeptiert diese Entgleisungen, nimmt die sich ergebenden Deformationen als abseitige Phänomene in Kauf. Deren Rätselhaftigkeit zieht uns ebenso in Bann wie sie uns abschreckt. 2011 steigert die Malerin in der 313 Einzelblätter umfassenden Raumarbeit „mausmanie“ unser Unbehagen über die Vielzahl orangefarbener Mäuse, die uns wie ein aufgereihtes Heer bei einer Offensive frontal gegenüberstehen. Beklommenheit lösen auch Verwachsungen und Klumpenbildungen aus, wie sie z.B. in den zu einem unentwirrbaren Knäuel verflochtenen „Rattenkönigen“ vorliegen. Die organischen Wucherungen dieser Bilder lassen uns vor den Grausamkeiten der Natur erschauern. Die Künstlerin macht es uns Betrachtern nicht leicht, weder in ihren surrealen Anomalien aus dem Tierreich noch in den sich zu einem düsteren Gestrüpp verdichtenden Pflanzen in den Kohlezeichnungen von 2010 und 2011 oder dem ab 2013 entstandenen, bizarr verfilzten „Wegesgekriech“.
Im Jahr 2012 beginnt sie eine Werkgruppe, an der sie in unterschiedlichen Techniken bis heute arbeitet, die „Krähenformung“. Ob als Rauminstallation aus Scherenschnitten, als Linoldruck oder Malerei auf Papier, immer sind es vielschichtige, das Wesen des großen schwarzen Vogels umspielende Formfindungen, die einerseits die Leichtigkeit des Schwebens, andererseits die kompakte Schwere des Vogelkörpers vor Augen führen. In den Scherenschnitten greift Kattler einen früheren Ansatz, das „Schattensammeln“, wieder auf. Ihre frei erfundenen, gefiederten Formungen platziert sie so im Raum, dass das einfallende Licht neue Schatten und mit ihnen traumhafte Visionen hervorruft. Die Gemälde frappieren durch ihre Unmittelbarkeit. Die „Krähenformung“ bildet keine Vögel ab, wie sie in der Natur vorkommen, sondern erfasst die Natur dieser majestätischen Wesen, indem Formen dem lebendigen Vorbild intuitiv nachempfunden und bis zum Befremdlichen, manchmal sogar bis zum Grotesken übersteigert werden. Auf ein dunkel schillerndes Farbspektrum beschränkt, belegen diese Gemälde eindrücklich Kattlers koloristisches Talent und ihre technische Souveränität. Während die Krähen mittels Farbformung körperliche Plastizität erhalten, geht Vera Kattler in dem 2013 entstandenen großformatigen Gemälde aus dem Zusammenhang „Tierverschwindung“ auf ebenso imponierende Weise den umgekehrten Weg eines formalen Entgleitens der Bildfigur in die streifigen Farblasuren, die ihrerseits in Auflösung begriffen sind.
Petra Wilhelmy
Redaktion: Petra Wilhelmy
Alle Abbildungen: VG Bild-Kunst, Bonn
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