Möchte man die Entwicklung des Porträts in der neuzeitlichen Kunst als sich von typisierender Gebundenheit lösende, fortschreitende Individualisierung mit dem Anspruch der personellen Unverwechselbarkeit begreifen, so kann man einerseits die physische Individualität, die äußere Erscheinung, als Kriterium benennen. Weiterhin spielen Aspekte der inneren Befindlichkeit eine Rolle, die sich durch Haltung, Gestus sowie Mimik äußern und die mit Beginn der Moderne auch verstärkt über den Duktus der Malerei selbst vermittelt werden.
Die figural und gegenständlich motivierten Arbeiten von Juliana Hümpfner suchen durch den offenen malerischen Duktus den Anschluss an autonome Bildwirklichkeiten. Hierbei wird das bildliche Motiv in einem labilen Schwebezustand zwischen realweltlichem Thema und gestischer Freiheit gehalten. Obgleich sie von einer konkreten Vorlage – der Fotografie – ausgehen, entwerfen ihre Malereien keine identischen Kopien von Realität. Indem eine Distanz zwischen fotografischer Vorlage und malerischer Umsetzung generiert wird, öffnen und erweitern sie vielmehr die vorgefundene Motivwelt. Die dadurch erschlossenen Ausdrucksqualitäten und Wahrnehmungspotenziale vermitteln weniger eine exakte Abbildung realer Figuren und Gegenstände als vielmehr eine sinnlich erfahrbare Reflexion der Bildwirklichkeit. Hierbei entsteht ein labiler Schwebezustand zwischen konkretem Thema und abstrahierend-gestischer Freiheit, ein Oszillieren zwischen fester Form und deren Auflösung.
In den Werkgruppen ab 2012 hat sich diesbezüglich eine Tendenz zu porträtanalogen Bildformulierungen herausgebildet, in denen feste Körperhaftigkeit kaum mehr zu erahnen ist. Die Lösung der Farbe vom Gegenstand ist zum Teil so weit vorangetrieben, die Heftigkeit der Farbkorrelationen derart ausformuliert, dass Vergleiche mit dem abstrakten Expressionismus sowie informeller Malerei nahe liegen.
Das innere Geschehen der Figuren ebenso wie äußere Einwirkungen zeigen sich insbesondere in der Bildung des Antlitzes. Hierbei gilt der Texturbezeichnung der Haut mittels einer vielgestaltigen Binnenmodulierung ein besonderes Augenmerk. Als den Leib umschließende Membran ist die Haut die größte Kontaktfläche des Menschen zwischen innen und außen und somit ein sensibles Instrument für Sinneswahrnehmungen, die sich auf ihr abbilden. Ihre malerische Transformation in eine pantochrome Farbgestalt mit überwiegend dissonanten Korrespondenzen verleiht der bildanatomischen Gestaltung eine bis ins Höchstmaß gesteigerte Ausdrucksqualität. Zudem trägt die motivische und gestische Konzentration zur Intensitätsdichte der Bilder bei.
In ihrem mehrteiligen Beitrag für den Kunstpreis Robert Schuman 2015 nimmt Juliana Hümpfner Bezug auf eine Parlamentsdebatte in Kiew im April des Vorjahres (Abb. Parlament 1, Parlament 2). Nachdem der Vorsitzende der kommunistischen Partei den Präsidentschaftskandidaten der Nationalisten für die drohende Spaltung der Ukraine verantwortlich gemacht hatte, wurden Mitglieder der rechtspopulistischen Regierungspartei handgreiflich. Die Debatte mündete in einer wüsten, fraktionsübergreifenden Prügelei. Diese aufgeheizte Stimmung der entgleisenden parlamentarischen Auseinandersetzung hält die Künstlerin als Aggregatzustand von Aggression bildlich fest und differenziert ihn in mehreren Aspekten aus.
Ein großformatiges Diptychon zeigt die Kontrahenten in einer diffus-bewegten Bildsituation. Überall ragen personell nicht zuzuordnende Hände in das Bildfeld, Gesichter sind verzerrt, verwischt und verunklärt. Es geht hier offensichtlich weniger um eine räumlich-logische Konstruktion als vielmehr um eine hoch impulsive, emotionalisierende Ausdrucksform. Daran haben die Hände als Handlungsinstrumente von Gewalt einen wesentlichen Anteil, darüber hinaus auch die dissonant-gestische Aufladung des figuralen Umfeldes. Malerisch aktivierter Hintergrund auf der einen und Aspekte der figürlichen Bewegung auf der anderen Seite bedingen gleichermaßen die gewaltvolle, brutale Prägung der Bildsituation.
In weiteren, kleinformatigeren Arbeiten erweitert die Malerin den Geschehnisraum des Diptychons, indem zusätzliche Details der Auseinandersetzung hinzutreten und so ein expandierend-fragmentiertes Ereignisspektrum akzentuiert wird. Es bleiben Torsi, in denen Farbbahnen leibliche Elemente markieren, ohne diese vollends auszuformulieren. Der Grund flutet in das chromatische Inkarnat und verleiht diesem eine nekrotische Prägung. Die Pinselführung beschreibt Handlungsverläufe als gewaltsame Vorgänge wie auch die Verletzung selbst. Somit bestimmt der Duktus der Malerei inhaltlich auch die motivische Szenerie. Das Bild wird als organisches System verstanden, das sich in seinen wechselseitigen Bezügen aktiviert und manifeste Sehgewohnheiten hinterfragt.
Andreas Bayer
ursprünglich publiziert in: Kunstpreis / Prix d'Art Robert Schuman. Hg. Elisabeth Dühr, Bärbel Schulte. Stadtmuseum Simeonstift Trier. Trier 2015, S. 69
Redaktion: Petra Wilhelmy
Alle Abbildungen: VG Bild-Kunst, Bonn
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