Rudolf Hesse zählt zu den wenigen Künstlern, die die Kreisstadt Saarlouis hervorgebracht hat. Hier wurde er am 13. Juli 1871 als jüngster Sohn von Sibilla und Michael Hesse geboren. Nach seiner Schulzeit absolvierte er zunächst eine kaufmännische Ausbildung im Eisenwarenhandel des Vaters, bevor er seinem Bruder Emil nach München folgte, der dort seit 1895 als Verkaufsleiter für Villeroy & Boch angestellt war. Rudolf, dessen kreative Begabung schon früh aufgefallen war, studierte von 1896 bis 1901 an der Akademie der Bildenden Künste München bei dem aus Griechenland stammenden Genre- und Historienmaler Nikolaus Gysis Malerei und Zeichenkunst. Anfänglich verstand er sich ausschließlich als Maler. Erst durch die positive Resonanz Gleichgesinnter wurde ihm bewusst, dass er eine außergewöhnliche zeichnerische Begabung besaß. So wagte er sich dann nach dem Studium, neben seiner malerischen Tätigkeit seine skizzenhafte Zeichentechnik als eigenständige Kunstform zu etablieren. Mit ihr gelang es ihm, seine alltäglichen Beobachtungen spontan und ungefiltert mitzuteilen und damit genau den Nerv der Zeit zu treffen.
Hesse war ein sehr produktiver Künstler, der vom Verkauf seiner Werke den Lebensunterhalt der fünfköpfigen Familie bestreiten musste und aus diesem Grund parallel zu seinem freien Schaffen eine Vielzahl an Auftragsarbeiten übernahm: Porträtmalereien, Karikaturen, Illustrationen, Werbegrafik, Annoncen, Ex libris, also populäre Bildproduktionen, die seine Bekanntheit etablierten und ihm regelmäßige Einkünfte garantierten. Gelegentlich wurde ihm in den Kritiken der Tagespresse eine gewisse Monotonie seines intensiven Brotberufs vorgeworfen, da sich bestimmte Motive und Typen wiederholen, doch betonte man zugleich die vergnügliche „Köstlichkeit“ eines jeden für sich betrachteten Werkes. Zwischen 1912 und 1918 wurden viele seiner originellen Federzeichnungen in den künstlerisch-literarischen, humoristischen und satirisch-politischen Zeitschriften wie der „Jugend“, den „Fliegenden Blättern“ oder „Kladderadatsch“ publiziert und in verschiedenen Ausstellungen gezeigt. So erreichten sie über München hinaus ein breites Publikum im Deutschen Kaiserreich. Alle seine Zeichnungen belegen, mit welcher Leichtigkeit er seine Ideen aufs Blatt skizzierte, wie pointiert er dabei vorging und wie sicher er seine Stilmittel beherrschte.
Neben den veröffentlichten Karikaturen existiert ein großes Kontingent unbekannter Zeichnungen, die 2018 im Rahmen einer Schenkung seiner Nachkommen in den Besitz seiner Heimatstadt Saarlouis gelangten. Der von den Erben übergebene künstlerische Nachlass umfasst annähernd 1300 Werke, darunter nur wenige der zahlreichen, in eigenhändigen Listen dokumentarisch erfassten Gemälde. Die Arbeiten sind thematisch breit gefächert und in unterschiedlichen Techniken und Maßen vorwiegend auf Papier, die meisten davon als Handzeichnungen ausgeführt. Es ist interessant zu beobachten, dass bestimmte Motive genauso gut im Großen wie als Miniatur überzeugen.
Generell bevorzugte der Künstler bei seinen Entwürfen, Skizzen und Druckgrafiken ein mittleres bis kleines Format, das der spontan zeichnenden Hand ohne Positionswechsel freie Entfaltungsmöglichkeiten erlaubt. Zeitgenössische Rezensionen ordneten ihn deshalb, auch im Hinblick auf bildnerische Auffassung, Komposition und malerischen Duktus als „intimen Maler“ ein (G. J. Wolf , 1922). Sein im Dezember 1912 in Artikeln der Zeitschrift „Kunstchronik und Kunstmarkt“ und der Tageszeitung „Münchener Neueste Nachrichten“ beschriebenes „Talent für Karikaturen, die erheitern, ohne zu verletzen“, das sich vor allem darin äußert, menschliche Schwächen aufzuspüren und „die Komik des Unzulänglichen im kleinbürgerlichen Leben zu erfassen“ bestätigt seinen feinfühligen und unaufdringlichen Charakter. Seine Vorliebe für das Medium Zeichnung, in dem filigrane Strukturen und eine subjektive Handschrift den Gesamteindruck definieren, passt ebenfalls zur diskreten Disposition seines Wesens.
Das Hauptelement seiner nicht selten impressionistisch flirrenden grafischen Gestaltungen ist die Linie, die er mit grandiosem Schwung bravourös aufs Papier zauberte. Der Kunstkritiker Hermann Esswein hob bereits 1912/1913 in seinem essenziellen Beitrag zu Rudolf Hesse die Bedeutung seines linear dominierten, „runden, anmutig geschwungenen Stiles“ hervor. Und so wurde das, was als Nebenbeschäftigung bzw. vorbereitendes Instrument während der Akademiezeit begann, schon bald zur einträglichen Hauptbetätigung. In dieser Hinsicht erging es Hesse etwa fünfzig Jahre später im kleineren Stil wie seinem großen Vorgänger Wilhelm Busch. Sie verbindet eine Reihe von Gemeinsamkeiten: Beide schufen Illustrationen von unverwechselbarer, humorvoller Eigenart, wobei Busch in seinen Bildergeschichten Sprache und Bild gleichen Wert beimaß, Hesse sich dagegen auf das Bild konzentrierte und ohne Einbußen auf einen Begleittext verzichten konnte. Beide beherrschten vorzüglich die überspitzte Wiedergabe menschlicher Merkmale und Skurrilitäten. Und beide verfügten über ein ursprüngliches, großartiges Zeichentalent. Im Vergleich wird deutlich, dass sich Hesse in seinen Darstellungen stärker auf spezifische Muster fixierte. Obwohl er die Bandbreite seines genialen Vorgängers nicht erreichte, übertraf er ihn in der grandiosen Art, in der er seine Figuren und Szenen mit nur wenigen Linien als energiegeladene, ornamental geschwungene Kürzel zu einer pointierten Aussage verdichtete.
Max Liebermanns Erkenntnis, „Zeichnen heißt weglassen“, impliziert, dass Zeichnungen grundsätzlich einen hohen Grad an Abstraktion in sich tragen. Dies fordert vom Künstler Entschiedenheit in der Andeutung weniger, aber elementarer Aspekte. In ihrer Spontaneität versprühen die Zeichnungen Rudolf Hesses ein Feuerwerk an Esprit, das auch bei gegenwärtiger Betrachtung noch zündet. Selbst wenn Motive wie Dienstmägde in langen Schürzen oder Herren mit Frack und Zylinder längst nicht mehr unsere modernen Lebensverhältnisse widerspiegeln, berühren diese häufig ulkigen und bisweilen bedauernswerten Figuren und die meist bizarren, manchmal tragischen Begebenheiten noch heute, ein Jahrhundert später, die Gemüter.
In den druckgrafischen Editionen, als Radierung, Kaltnadel und Vernis mou realisiert, lodert ebenfalls ein Drang zum Ungestümen und Freien auf. Das Urige, Komische, Schelmische rückt viele von ihnen in die Nähe der Karikatur. Allerdings gibt es in dieser Technik wie prinzipiell bei ihm auch situations- und zeitgebundene Beispiele für ernste, traurige und bedrohliche Themen: Armut und Einsamkeit, Krankheit und Tod, Krieg und Verzweiflung. Als 1919 der befreundete Drucker und Verleger Heinrich Graf seine Werkstatt in Hesses Atelierwohnung in der Leopoldstraße für ein paar Jahre einrichtete, begann eine Phase intensiver Kooperation, in der Rudolf Hesse die Druckgrafik als weitere Möglichkeit seines künstlerischen Ausdruckswillens ausbaute. In der Folge entstanden mehrere Mappenwerke und zahlreiche Ex libris.
Inhaltlich kreist sein künstlerisches Werk um den Menschen. Mit Humor und Einfühlungsvermögen widmete er sich dessen Einfältigkeit, Allüren und Eitelkeit und lenkte den Fokus auf gesellschaftliche Gepflogenheiten und Missstände seiner Zeit. Mit kritischem Blick nahm er die Lebenswirklichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins Visier: sonntägliche Ausflüge und Vergnügungen der feinen Leute, Spazier- und Kirchgänge, den Besuch von Zirkusvorstellungen, Jahrmärkten und Konzerten, daneben Verrichtungen und Erlebnisse der einfachen Bevölkerung, Alltagsszenen und kuriose Begebenheiten ebenso wie die kriegsbedingte Not, persönliches Elend, Armut, Hunger und Willkür.
Das Porträt, das als Königsdisziplin der bildhaften Fixierung von Persönlichkeitsmerkmalen gilt, nimmt im Themenspektrum Hesses einen sehr hohen Stellenwert ein. Die meisten seiner als Tafelmalerei verwirklichten Aufträge sind dem Bildnis vorbehalten, wie die Arbeitsbücher des Künstlers belegen. Davon abgesehen ist das Porträt Stoff vieler freier Werke. Es reicht vom Kopfbild über das präferierte Schulterstück bis hin zur meist sitzenden Ganzfigur. Oftmals standen Familienmitglieder oder Bekannte dafür Modell. Während in den frühen, an die Tradition Wilhelm Leibls anknüpfenden Bildnissen Gesicht und Hände als Lichtinseln aus der sie umfangenden Dunkelheit markant hervortreten, hellt sich die Palette Mitte der 1920er Jahre auf, wird bunter und im malerischen Gestus impressionistischer. Über die Tafelmalerei hinausreichend dokumentieren seine Papierarbeiten ein reges Interesse an der individuellen menschlichen Gestalt. Ob als realistische Abbildung in den frühen Kohlezeichnungen um 1900, als vorbereitende Studie für ein Gemälde oder als spontane, freie Skizze ausgeführt, immer gelingt es ihm, charakteristische Eigenschaften und Gefühlsregungen der dargestellten Person ausdrucksvoll festzuhalten.
Bei Einzelfiguren und interaktiven Szenen nahm Hesse Verhaltensweisen, Manieren und Unzulänglichkeiten seiner Mitbürger aufs Korn. Tänzer, Musiker oder Spaziergänger sind beliebte Motive, Bettler, Akrobaten, Vertreter von Berufsgruppen wie Richter oder Lehrer ebenso. Damen in Abendroben oder maßgeschneiderten, kurzen Gewändern und eleganten Kostümen demonstrieren eine andere Seite des Künstlers, nämlich seine Offenheit für Modetrends. Auch seine Genreszenen widmen sich Tendenzen der Zeit, jedoch weniger exklusiven. Sie schildern Ereignisse des alltäglichen und öffentlichen Lebens und gewähren einen Blick in Wohn- und Amtsstuben, in Konzertsäle, Wirtshäuser und Wartezimmer. In den meisten Darstellungen schwingt ein heiterer Ton mit, wobei die Übergänge zur Karikatur oft fließend sind, ohne dabei die betroffenen Personen zu brüskieren. Sensible Sachverhalte wie subjektives und gesellschaftliches Leid während des Ersten Weltkrieges hingegen ging Hesse mit Ernst und Empathie an. Die mühelose Leichtigkeit der früheren Zeichnungen löste zunehmend eine düstere und schwere, mitunter sogar aufwühlende Stimmung ab. Zur alten Unbefangenheit fand er danach nie mehr zurück.
Musik und Religion lieferten ihm außerdem reichlich Gestaltungsanreize. Konzerte und biblische Szenen, vor allem solche aus der Passionsgeschichte, sind oft Bildthema, gleichfalls Darstellungen aus dem zeitgenössischen religiösen Leben wie z. B. Fronleichnamsprozessionen. Ein nicht unbeachtlicher Teil des Œuvres entstand im Zusammenhang gewerblicher Aufträge. Dazu gehören Plakatentwürfe, Reklameanzeigen, Flyer für Versicherungen, private Annoncen familiärer Ereignisse und, als wesentliches Aufgabengebiet auftragsgebundener Grafikproduktion, das Ex libris. Vor allem ab den 1930er Jahren, in denen es aufgrund der politischen Situation künstlerisch still um den Karikaturisten Rudolf Hesse wurde, gewann die Buchillustration an Gewicht und wurde zu einer wichtigen finanziellen Einnahmequelle. Zwischen 1930 und 1944 illustrierte er u.a. als Mitarbeiter der Saarlauterner Hausen Verlagsgesellschaft oder des Freiburger Herder Verlags zahlreiche Bücher u. a. von Johannes Kirschweng und Peter Dörfler.
Rudolf Hesse war bis zuletzt künstlerisch aktiv. Seine Notizbücher legen dar, wie diszipliniert er seinen selbst auferlegten Pflichten und selbst gesteckten Zielen nachging und wie fleißig er Tag für Tag seine Ideen verwirklichte. Nach außen trat er am Ende mit seiner Kunst kaum noch in Erscheinung, in der Zurückgezogenheit seines Ateliers aber ließ er nach wie vor seiner Kreativität freien Lauf. Als er am 22. Mai 1944 in München starb, blieb seine letzte Ölskizze auf Papier unvollendet.
Petra Wilhelmy
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Redaktion: Petra Wilhelmy
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