Volkmar Gross zählt zur ersten Generation bildender Künstler, die nach dem Zweiten Weltkrieg an der am 14. Juli 1946 eröffneten Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk Saarbrücken ein Studium absolvierten. Nach erfolgreichem Besuch der von Frans Masereel geleiteten Meisterklasse für Malerei konnte er seine künstlerische Ausbildung dank eines Stipendiums von 1949 bis 1951 an der Académie de la Grande Chaumière und am Collège Technique in Paris fortsetzen und intensivieren. Masereel hatte seine Leistungen im Abschlusszeugnis äußerst positiv bewertet und schätzte ihn im Allgemeinen sehr, wie aus erhaltenen Korrespondenzen hervorgeht. Bis in die 1960er Jahre standen die beiden über Briefwechsel in persönlichem Kontakt und waren als Mitglieder der Internationalen Vereinigung der Holzschneider XYLON an gemeinsamen Ausstellungen in ganz Europa beteiligt. Masereel verfolgte in dieser Zeit den Werdegang seines Schülers mit regem Interesse und kommentierte einzelne Arbeiten und die darin beobachteten Tendenzen gleichermaßen wohlwollend wie kritisch
Nach seiner Rückkehr aus Frankreich blieb Gross bis zu seinem Tod im Jahr 1992 seiner Heimatstadt Saarbrücken treu. Hier lebte und arbeitete er, wirkte aber durch regelmäßige Ausstellungsbeteiligungen weit über die Region hinaus. Als Mitglied verschiedener Künstlervereinigungen war er bestens vernetzt und behauptete zwischen all den Vertretern dieser Organisationen eine autonome schöpferische Position. 1979 erhielt er für seine Leistungen den Albert-Weisgerber-Preis der Stadt St. Ingbert. Als ersten Gesamtnachlass übergab die Familie 2019 sein reiches künstlerisches Erbe in Form einer großzügigen Schenkung dem Forschungszentrum für Künstlernachlässe am Institut für aktuelle Kunst in Saarlouis.
Schon früh offenbart sich die Affinität des Künstlers für Gestaltung und Natur. So zeugen seine in Kindheit und Jugend angefertigten Scherenschnitte und Blumenaquarelle bereits von einer außergewöhnlichen ästhetischen Sensibilität, manuellen Geschicklichkeit und einer erstaunlichen botanischen Detailkenntnis. Die in jungen Jahren erarbeiteten spezifischen Erscheinungsformen von Pflanzen greift er später in den Stillleben noch einmal auf. Andere für ihn charakteristische Gestaltungselemente treten während seines Studiums hinzu: Kräftige Kontraste, eine flächenbetonende Kulissenhaftigkeit sowie die pointierte Darstellung bildlicher Szenen. In den linear angelegten Grafiken von 1949/50 hallt der Einfluss der markanten Holzschnitte Frans Masereels am deutlichsten nach, doch gewinnt das Schwarz nicht dieselbe düstere Macht. Die auf Beobachtungen realer Kriegszerstörungen fußenden, gespenstig wirkenden Gebäudeprospekte mancher seiner Ölmalereien und Kaltnadelradierungen dieser Zeit besitzen außerdem eine gewisse Nähe zu den bühnenartigen Bildszenarien des seit 1947 als Lehrbeauftragter in Saarbrücken tätigen Malers Karl Kunz.
Aus der Pariser Zeit ist im Nachlass ein kleines Skizzenbuch mit 20 sensiblen Bleistiftzeichnungen vorhanden, das mit dünnem, beinahe brüchigem Strich eine Ideensammlung genau der Stoffe bereithält, die der Künstler ein Leben lang in unzähligen Abwandlungen immer wieder variiert. Er verweilt ganz im Modus des Skizzenhaften, bemüht sich nicht, das Unscharfe, Flüchtige, Suchende seiner tastenden Imaginationen zu einem fertigen Bild zu verfestigen. Auf diese Weise entstehen flirrende Szenen, die Möglichkeiten von Veränderung in sich tragen. Auch in späteren Zeichnungen wendet Gross gelegentlich diesen strichelnden Zeichenduktus an, um die Kompaktheit der Formen durchlässig zu machen und darüber eine Offenheit zu erlangen, die die Absolutheit von Aussagen in Frage stellt.
Boote, Figuren und Architekturen gehören zum Grundvokabular seines Schaffens. Nach der Ausbildung in Paris entstehen bis 1960 zahlreiche Grafiken in verschiedenen Verfahren, Malerei hingegen hat in dieser Phase eher Seltenheitswert. Völlig autark behauptet jedes Ding unverrückbar seinen Platz in einem stabilen Ambiente: ein Wesenszug, der allen Bilderfindungen des Künstlers eigen ist. In den Darstellungen springt die blockhafte Statur der Gestalten ins Auge. Sie wirken wie aus Stein geschlagen und strahlen Urtümlichkeit und eine spröde Schönheit aus. In den Holz- und Linolschnitten bleiben sie bis in die 1970er Jahre vom selben stämmigen Typus, während sie in den Kaltnadelradierungen und malerischen Arbeiten später graziler werden.
Die Linolschnitte kommen mit ihren energischen Kontrasten den Holzschnitten nahe und sind mitunter kaum von ihnen zu unterscheiden. Mit spitzen Strichelungen und kleinen Kerben evozierte weiße Fissuren im schwarzen Abdruck imitieren gezielt die Struktur von Holz. In ähnlicher Intention erzeugen partiell mit Spachtelmasse behandelte Linoleumplatten auf dem Papier malerische Effekte, die dem Modus der Temperabilder eng verwandt sind. Dank der technischen Voraussetzungen können die Kaltnadelradierungen ebenfalls fließende Übergänge und multiple Differenzierungen von Mustern, Licht- und Schattenwerten generieren, die generell als Kennzeichen der Malerei gelten. Systematisch und gekonnt verquickt Gross spezifische Eigenschaften künstlerischer Verfahren und erreicht dadurch ein Disziplinen übergreifendes, unverwechselbares Profil seines persönlichen Stils.
Die figürlichen Themen decken ein Spektrum zwischen vereinzelten und einander in diversen Kontexten zugeordneten Personen ab. Das Fest mit gelbem Lampion von 1957 präsentiert erstmalig die Einbindung von Gestalten in den Rahmen eines Gebäudes, eine Synthese, die Volkmar Gross in zahlreichen Versionen immer wieder durchdekliniert. Wie Puppenstuben erlauben die verschachtelten Bauten einen Blick auf ein detailversessenes, sich in Fragmenten enthüllendes Leben en miniature hinter den Kulissen. Desweiteren gehören Segelschiffe und Fischfang sowie Wagen und provisorische Zeltunterkünfte zu seinem Themenspektrum. Dabei sind die Darstellungsvarianten so vielfältig wie die semantischen Interpretationen, die sich alle auf Transport, Ortswechsel und Nomadentum beziehen und das Dasein als eine steter Veränderung unterworfene Reise durch Raum und Zeit metaphorisch umschreiben.
Im Œuvre von Gross spielt die traditionelle Ölmalerei durchgängig eine entscheidende Rolle. Die seit Beginn der künstlerischen Produktion mit zeitlichen Abständen eher selten praktizierte Technik der Malerei mit Temperafarben auf Papier gewinnt in den 1970er Jahren zunehmend an Relevanz. Oft widmen sich die Darstellungen dieser Zeit, auch die in Kaltnadel ausgeführten, dem Zirkus- und Lagerleben. Es wird zum Inbegriff einer Freiheit durch Verzicht auf alles Unnötige und Belastende. Die darin auftretenden puppenhaften Mädchen und jungen Frauen kokettieren mit juvenilem Charme und erotischem Potenzial. Wie alle seine weiblichen Figuren sind sie Ausdruck eines Frauenbildes makelloser, junger Schönheiten, das Alter und Vergänglichkeit ausblendet, aber genauso die Frau als starkes, emanzipiertes Individuum.
Analog den Scherenschnitten sitzen auch die Figuren in den Temperabildern auf der einfarbigen Folie des Untergrundes. Maltechnisch greifen sie Qualitäten der Bildhauerkunst auf. Ihre Oberflächen wirken fleckig und abgegriffen und erinnern an alte, farbig gefasste Skulpturen oder glasierte Keramik. Kleine Glanzspitzen funkeln wie Preziosen aus dem matten Farbgemenge hervor. Das steinerne Aussehen gibt Figuren und Dingen etwas Unzeitgemäßes. In Einklang mit den Haltungen und Bewegungen fördert es den Eindruck unvergänglicher, für die Ewigkeit gemeißelter Inszenierungen einer in sich geschlossenen künstlichen Welt. Diese Werke sind einzigartig, nicht nur dank ihrer koloristischen Alleinstellungsmerkmale. Auch Themenwahl, Kompositionsaufbau und Bildharmonie suchen ihresgleichen. In den Stillleben sind voller Bedacht Florilegien von Blüten und Pflanzenteilen wie Kostbarkeiten ausgebreitet. Auch die Figurendarstellungen mit ihren skulptural anmutenden, farbig angekratzten Oberflächenfassungen lassen die Zeit stillstehen. Zwar fangen die Szenen akrobatische Aktionen tanzender oder turnender Artistinnen ein, doch sind die Bewegungen derart präzise in das Gerüst der Gesamtanordnung eingebaut, dass die kleinste Veränderung das Konstrukt zum Einstürzen brächte.
Ende der 1970er Jahre schleicht sich die Tendenz einer zunehmenden Detailverliebtheit in die Bilderzählungen. Sie prägt die gesamte späte Schaffensphase und setzt den kargen, oft herben Frühwerken eine neue Lockerheit entgegen. Die lebhaftere Ausmalung der dargestellten Situationen bereichert die epische Dimension der Bilder. Dabei besitzen die Requisiten oft rein ästhetische Funktion und behaupten wie die Objekte eines Stilllebens souverän ihren Platz. In den improvisierten, anspruchslosen Herbergen etabliert sich nach und nach gesellschaftliches Leben mit primitiver Bodenständigkeit.
Die ab 1985 entstandenen Aquarelle sind nicht mehr wie die frühen Arbeiten in dieser Technik buntfarbig in dem Sinn, dass sie verschiedene Farbtöne vereinen. Viele der Beispiele zeigen Architekturen, die wie Trutzburgen oder Bunker über einer Ebene thronen. Da die Gelbfärbungen dominieren, schimmern die Darstellungen, als illuminiere sie das sengende Mittagslicht subtropischer Klimazonen. Man fühlt sich an Beduinenhäuser erinnert, die inmitten der Wüste die Bewohner vor der unerträglichen Hitze retten, indem sie ihnen zu Schatten und Abkühlung verhelfen. Das Abweisende verspricht nun zudem Schutz und animiert dazu, sich in Gedanken hinter die Fassaden zurückzuziehen. Auch ohne figurale Handlungen gelingt es Gross, den Betrachter in die Gefilde seiner fantastischen Bildwelt zu locken. Im Vergleich zu den frühen Ruinen ist im Spätwerk eine neue Offenheit spürbar.
Nach 15-jähriger Unterbrechung entstehen 1988 elf Editionen in der Technik des Linolschnitts. Darstellungsinhalt sind Figuren im Kontext von Wagen, Schiffen und Tieren, mit Accessoires wie Schirmen, Rad, Krug oder Vorhang. Vor allem in den ungewöhnlichen Zusammenstellungen bringen diese Bilder motivische Neuerungen. Die Figuren sind auf den Fahrzeugen wie auf Podesten oder aber als Statuen ohne Fundament gleichberechtigt neben Scheibe oder Vorhang postiert. Die Gestalten schwimmen im weißen Papier, einen Horizont gibt es nicht, dafür endlose Weite. Das verbindet die Drucke mit den frühen Grafiken. Die Binnenstrukturen sind nun allerdings ornamentaler geworden. Waren die Muster früher geometrischer und strenger, zieren nun obendrein fließende Flächenzeichnungen ausgewählte Bereiche, was besonders in Vorhängen und Planen die Farbexplosionen textiler Gewebe der Temperamalereien im grafischen Medium reproduziert. So werden die Bilder jetzt insgesamt bunter und ihr Ausdruck fröhlicher.
Als Grundprinzip seines Formwillens lässt sich das Bestreben erkennen, aus einem limitierten, eng vernetzten System des Ausgangsmaterials, sei es nun inhaltlicher, formaler oder technischer Natur, eine unendliche Geschichte voller Geheimnis und Harmonie zu spinnen. Bei allem Gleichklang ist eine sehr dezente und sich ohne evidente Einflüsse von außen immanent vollziehende Entwicklung sehr wohl ablesbar. Sie führt vom Kantigen, manchmal ein wenig Schroffen, auch Unnahbaren hin zu einer feingliedrigen, in tausenderlei Färbungen aufgesplitteten Vision menschlicher Lebensträume. Die Darstellungen versprühen einen warmherzigen Charme, archaisch und schlicht, lassen aber auch dunkle Aspekte anklingen. Gerade das bewahrt sie davor, sich in oberflächlichen Schönmalereien zu erschöpfen.
Mit Unbeirrbarkeit hielt Gross an seinen Metaphern fest, orientierte sich nicht an künstlerischen Strömungen, die gerade en vogue waren. Bis zum Ende blieb die gegenständliche Bildsprache sein Ausdrucksmittel, das er authentisch, konsequent und einzigartig anwandte. Das Dasein als einen so spielerischen und sorgenfreien Zustand zu kommunizieren, bedeutete für den Künstler harte, lebenslange Arbeit. Seine beharrlich wiederholten Versuche, die in der Wirklichkeit unerreichbare elysische Vollkommenheit wenigstens fiktional wahr zu machen, waren Ausflüchte ins Glück einer persönlich von Krankheit und damit einhergehenden Beeinträchtigungen geprägter Existenz. In der Sehnsucht nach Harmonie und kindlicher Unbeschwertheit klingen romantische Vorstellungen nach. In der Romantik wurde der Rückzug in sich selbst, der im Traum tiefste Innerlichkeit und Abstand von den tatsächlichen Gegebenheiten erlangt, als Kernpunkt poetischer Kraft verstanden. Auch im Surrealismus besitzt der Traum, der den kollektiven Mythos individueller und sozialer Freiheit mit neuen Ideen speist, großes Gewicht. Diese auf Gefühl und Psyche basierenden Stilrichtungen rücken genau wie die Kunst von Volkmar Gross Traum, Fantasie, Sensitivität und Poesie ins Zentrum. Hier liegen die Berührungspunkte, nicht in inhaltlichen oder formalen Affinitäten. Gross‘ fabelhafte, oft unergründliche Bilder verströmen eine Atmosphäre der leisen, die Seele berührenden Regungen. Analytische Kriterien bestätigen die Homogenität seines Œuvres, unser Gefühl kommt ohne jede Erklärung zum selben Schluss.
Petra Wilhelmy
Artikel in Bearbeitung
Redaktion: Petra Wilhelmy
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