Vom Material zur Form. Die textilen Arbeiten von Sofie Dawo
Im Kontext ihrer künstlerischen und pädagogischen Bestrebungen und Praxis lässt Sofie Dawo nie einen Moment der Unschlüssigkeit in Hinsicht auf ihre gestalterischen Aufgaben und die Bildinhalte ihrer gewebten Arbeiten aufkommen. Das Material mit seinen vielfältigen schöpferischen Möglichkeiten zu erkennen, in einem künstlerischen Prozess zu gebrauchen und in textile Bilder und Objekte umzusetzen, seine weitgehend unabhängige Kraft zur Geltung zu bringen und anschaulich zu machen, dieses Ziel verfolgt Sofie Dawo seit über vierzig Jahren. Sie gliedert sich damit in die Reihe der Künstlerinnen ein, die die Webkunst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts entscheidend bestimmen. Schließlich war es auch Sofie Dawo, die zu Beginn der sechziger Jahre in ihren Arbeiten die Grenze der Zweidimensionalität überschritt und zu Werken plastischen Charakters vorstieß. Damit lenkte sie die Entwicklung der Tapisserie in Deutschland in eine völlig neue Richtung. Die Webkunst befreite sich aus dem Bann der reinen Fläche, gewann an außerbildlicher Räumlichkeit, erreichte somit das Relief und sogar die gänzlich von der Wandfläche unabhängige textile Skulptur.
In einem der Künstlerin gewidmeten Sonderheft der Zeitschrift "Kunst und Handwerk" von 1965 bezeichnet Georg- W. Költzsch den Schritt zu gewebten Reliefs oder Plastiken noch als spekulativ, wohl wissend, dass die Bildfläche der Tapisserie in Frage gestellt ist und die Künstler nach neuen Möglichkeiten suchen. (Költzsch 1965, S. 1) Dass sich solche Vermutungen sehr rasch bewahrheitet haben, zeigt Barbara Mundt in dem 1975 publizierten Buch "Textile Objekte" anhand namhafter nationaler und internationaler Künstlerinnen auf. (Mundt 1975) Die Autorin stellt u. a. die verschiedenen Gattungen textiler Kunst - wie Bild, Relief, Plastik, Raum/Environment - gleichwertig nebeneinander und betont zurecht die Eigenständigkeit dieses Kunstzweiges. Damit sind auch die Prinzipien von Jean Lurçat (1892-1966) - jenem Entwerfer für die Gobelinmanufaktur von Aubussson - überwunden, der zwar in der Webkunst dem reinen Kopieren zeitgemäßer Malerei, wie es in den zwanziger Jahren in Frankreich von Madame Cuttoli praktiziert worden war, widersprach, sich dennoch als ein Verfechter der Trennung zwischen Künstlerin und Weberin entpuppte.
Dieser historischen Tradition hat sich die freischaffende Künstlerin und Lehrerin Sofie Dawo nie gebeugt. Entwurf und Ausführung eines Wandteppichs sind Leistungen ein und derselben Künstlerpersönlichkeit und nur so kann eine originelle, ursprüngliche und eigene Komposition entstehen, die der Spontaneität der künstlerischen Gedankenwelt ebenso wie dem verwendeten Material ausreichenden Spielraum zur Entfaltung zuerkennt.
Das Experimentieren mit den unterschiedlichsten Materialien charakterisiert das Gesamtceuvre von Sofie Dawo. Baumwolle, Kammgarn, Schurwolle, Waxgarn, Leinen, industriell gefertigte Stoffe, Nylonfäden, Silberfolien, Kunststoffdrähte oder Metalle werden in den vielfältigsten Techniken am Webstuhl miteinander kombiniert - oder konfrontiert. So steht häufig zu Beginn eines Schaffensprozesses der Werkstoff selbst als das materiell Greifbare.
Die älteste der in Blieskastel gezeigten Arbeiten, der Behang "III 1964", weist ein lockeres Gewebe aus weißen Kettfäden mit schwarzer Wolle auf, das drei übereinander gelagerte Kreisformen ausspart. Im ersten Zustand dieses Behanges waren die Kreise kleiner. Später hat die Künstlerin sie jedoch mit der Schere nachbearbeitet, so dass sie größer wurden. Schwarze Fadenenden, mal punktuell verdichtet, mal einzeln, zeichnen bewegte Konturen und lassen die dahinter liegenden streng parallelen Kettfäden erkennen. Die Ausgewogenheit von Horizontale und Vertikale sowie von Schwarz und Weiß bindet den Behang in der Fläche.
Die künstlerische Idee und die Formfindung sind bei Sofie Dawo stark geprägt von dem Suchen nach neuen, unkonventionellen und der Webkunst bis dahin unbekannten Materialien, was sich insbesondere in den Werken der neunzehnhundertsechziger und -siebziger Jahre niederschlägt.
Von 1966 bis 1979 entstehen mehrere Fassungen des Behanges mit bunten Metallspiralen. In ein kräftiges Baumwollgewebe sind die gleichlangen Spiralen so eingewebt, dass sich im Bildzentrum eine kreisrunde Silhouette ergibt, in der das Metall frei hängt. Durch das umfangreiche Gewicht ziehen sich die seitlichen Ränder des Webstückes konkav ein. Diesen Kontur wiederholen die freien Spiralenden. Das ausgeglichene Spiel von konkaven und konvexen Linien orientiert sich an den Orthogonalen und verleiht dem Motiv des Kreises den flächenhaften Charakter.
Zwei weitere "Material-Bilder" von 1977 und 1979 verbinden Wolle mit Kunststoffen, einmal plastisch voluminös, einmal rhythmisch geordnet. In "X 1977" sind auf einem aus weißer und schwarzer Wolle gewebten Untergrund verschieden lange Stücke eines Polyäthylen-Drahtes eingelegt, zu einer oder mehreren Schlaufen zusammengefasst. In senkrechten, dicht aufeinander folgenden Reihen wölben sich die Drahtschlingen plastisch vor und scheinen sich miteinander zu verflechten, so dass der Eindruck eines transparenten Gebildes entsteht.
Das Werk "VIII 1979" mit seiner klaren Bildordnung impliziert eine zeitlich bedingte Veränderung seiner Zuständlichkeit. Die in fünf Vertikalen im Webstuhl eingeknüpften dünnen Nylonschnüre fallen in gleichmäßigen Bogen übereinander, wobei sich ihre Enden linienhaft verdichten. Ursprünglich standen die Schnüre raumumgreifend von der Bildfläche ab und konstituierten sich zu röhrenförmigen Bildfiguren. Verantwortlich war der Drall ihrer Aufrollung vor der Verwendung, der sich im Laufe der Zeit immer mehr reduziert hat. Mit dem Minimieren der Körperhaftigkeit der anfänglichen Bildfigur und der damit einhergehenden Abwandlung der Bildgestalt dominiert das Material als selbst aktiv werdende Kraft.
Einen ähnlichen Prozess lässt sich bei dem 1972 entstandenen Behang "XII 1972" nachempfinden, bei dem auf weißer Baumwolle horizontal gleich lange weiße Baumwollfäden eingeknüpft wurden. Irgendwann hat sich die regelmäßige Anordnung der Fäden zugunsten einer stärker bewegten innerbildlichen Struktur modifiziert. Die Eigendynamik der Baumwollfäden kristallisiert sich somit als Träger der gesamten Bildbewegung heraus. Sofie Dawo hat schließlich einen Bildzustand festgehalten, als sie der Arbeit einen Rahmen aus Plexiglas gab. Das momentane Gefüge mit seinen vielen kleinen Linien und freien Bereichen, an denen sich die Fäden verschoben haben, verweist mit seiner apriori nicht festgelegten Komposition auf den Stellenwert des Materials und die ihm zugestandenen schöpferischen Möglichkeiten im Gesamtwerk Sofie Dawos.
Tausende hängender Fäden aus schwarzem Waxgarn sind bei dem Objekt "IV 1973" in verschiedenen Längen horizontal so auf den Untergrund eingeknotet, dass sich als Bildfigur ein Oval ergibt. Es handelt sich hierbei um eine der wenigen Arbeiten, zu der Studienzeichnungen auf Papier existieren, die Anhaltspunkte für die Komposition geben. Ausgangspunkt ist die Vorstellung der Kurve, die die Konturen der Fadenenden von oben nach unten in stets ausladenderen Schwüngen nachzeichnen. Die Dichte der Bildfigur ergibt sich zum einen durch das Überlagern der Fadenreihen in der Waagerechten, zum anderen aufgrund der Fadenlängen, die von Kurve zu Kurve differieren.
Basiert die Komposition auf solchen geometrischen Vorgaben, so sind meist auch detaillierte mathematische Berechnungen bezüglich der Größe der Fäden oder etwa ihrer Anzahl erforderlich.
Sofie Dawo arbeitet in vielen ihrer Werke ohne Entwürfe oder Studien. Diese Tatsache impliziert, dass die Komposition häufig erst während des Webvorganges entsteht und spontane Einfälle oder mehr oder weniger zufällig sich ergebende Strukturen (etwa aufgrund technischer Ereignisse im Webstuhl) berücksichtigt.
Die beiden textilen Bilder "VIII 1985" und "IX 1985" sind nach dem gleichen Prinzip und jeweils mit schwarzem Kammgarn und weißer Baumwolle gewebt. Die dichten Ränder umrahmen das eigentliche Bildfeld, in dem die Schusszahl verringert wurde und die weiße Baumwollkette zum Vorschein kommt. In "VIII 1985" wird durch Zusammenschieben und Auseinanderdrücken der Schussfäden eine rhythmisch bewegte Musterung erzielt, die eine Assoziation an Wolken vermittelt. Die Anordnung der klaren orthogonalen Gliederung des Behanges "IX 1985" in zahlreiche streng parallele Horizontalen und eine von kleinen Querovalen bestimmte Vertikale ergab sich durch einen "Fehler" im Webstuhl. Der Schützen ist während des Webvorganges in einem Fach hängengeblieben und hat durch Verschieben der Schussfäden den Beginn dieser Bildgestalt hervorgerufen, was von der Künstlerin akzeptiert und im weiteren Verlauf bewusst fortgeführt wurde.
Die dezentrale Lage des Bildmotivs in der rechten Bildhälfte kann von der Künstlerin apriori nicht festgelegt werden, wie auch in der Arbeit "I 1988". Sie folgert vielmehr aus der Geschwindigkeit des Schützens, den Sofie Dawo mit der rechten Hand schlägt und daher im rechten Teil des Webstuhles am schnellsten läuft.
Das Nachbearbeiten eines bereits bestehenden Gewebes gehört mit zur künstlerischen Idee Sofie Dawos und findet sich in allen Schaffensperioden.
In dem Werk "VIII 1989" wird naturfarbenes, vorgefertigtes Leinen geschlitzt und geschnitten, so dass eine horizontal parallele Musterung entsteht, die je nach Lichteinfall sich zu bewegen scheint. Lineare Bildelemente konstituieren sich durch das dynamische Agieren der Künstlerin aus der Statik des Stoffstückes zu einem flächengebundenen Ensemble.
Sofie Dawo greift in solchen Arbeiten in die Struktur eines fertigen Webstückes ein, verändert sie beispielsweise durch Reißen oder Schneiden, um zu neuen Materialformen und Texturen zu gelangen. Die augenscheinliche Zerstörung des Stofflichen bedingt eine neue Wertigkeit des Materials; es wird gleichsam durch diesen Arbeitsprozess veredelt und beinhaltet ein neues Entstehen, dessen Ordnung die Künstlerin festlegt und bedeutet einen Zugewinn an künstlerischer Expressivität.
Daneben gibt es jedoch auch textile Arbeiten, bei denen das Material die Ordnung, seine eigene und die des Werkes, bestimmt. Für die in aufwändigen Arbeitsvorgängen entstehenden "Thermoverformungen" webt die Künstlerin meist aus dicker Smyrna - Wolle ein Stoffstück, das sie, in einem Stoffsack verhüllt, in der Waschmaschine im Kochwaschgang krumpfen, das heißt schrumpfen und verfilzen lässt, manchmal gleichzeitig auch noch einfärbt.
Bei einer der Jüngsten Werke der Blieskasteler Ausstellung, dem Behang "V 1995" wird das gekrumpfte Webstück auf einen schwarzen textilen Untergrund montiert, und zwar in der Form, wie es der Krumpfvorgang produziert hat. Darüber spannt Sofie Dawo einen schwarzen glatten Polyesterstoff, bei dem sie vor der Montage die Kettfäden entfernte, ohne die Ränder zu beeinträchtigen. Den Betrachter konfrontiert ein mehrschichtiges Gebilde bei dem das Volumen der Thermoverformung als zweite Bildebene gleichsam ins Verborgene geraten ist und dennoch die rhythmisch zeichnende Außenschicht bedingt. Es ergibt sich eine weiche Wellenbewegung in den vertikalen Fäden der dritten Bildschicht, die Silhouette des thermoverformten Gewebes widerspiegelnd. Die körperhaftesten Partien drücken stellenweise die Schussfäden auseinander und durchdringen so die Außenschicht. Für den Betrachter werden zwei von drei Bildebenen und die damit einhergehende Tiefenräumlichkeit dieses Werkes erfahrbar.
In einer knappen, doch umso prägnanteren Eigencharakteristik ihrer textilen Kunst formuliert Sofie Dawo: "Die Arbeiten entstehen vorwiegend aus den gestalterischen Möglichkeiten textiler und anderer Materialien, die auf ihre neuen Ausdrucksmöglichkeiten hin untersucht und eingesetzt werden. Meist entstehen Entwurf und Komposition der Behänge aus den verschiedenen Materialien selbst und aus der Kenntnis des Webens. Bearbeitungsmöglichkeiten werden systematisch, experimentell erforscht, um in größere Flächen umgesetzt zu werden. So entstehen einfache Reihungen, Abstufungen und Formverläufe, Ordnungen und Variationen der Abstände und des Materials. Nicht zuletzt wird immer wieder die Beschaffenheit des Materials in seiner Selbstäußerung beobachtet und die Phasen einer veredelten Form in der Fläche erschlossen. Dadurch entfällt der "Karton" als Vorlage für eine Umsetzung. Die Formen entstehen oft aus der "Selbstzeichnung" des Materials und der gewählten Art der Bearbeitung. Das Experiment mit immer neu gefundenen Elementen führt zu einem dynamischen Prozess mit einer Variationsbreite, die sich durch auftauchende Überraschungen immer weiter entfaltet." (Maschinenschriftliches Manuskript von Sofie Dawo, 1985)
Mit sachlich dargelegten Kompositionen tritt uns Sofie Dawo als Textil - Künstlerin entgegen, die ihre Werke nicht ideologisch fundiert verstanden wissen will. Bei all ihren Arbeiten steht die Materialität sowohl organischer als auch anorganischer Stoffe im Mittelpunkt des künstlerischen Gestaltungsprozesses. Ob traditionelle oder unkonventionelle Werkstoffe - in ihren Kombinationen und Varianten sind sie Determinanten der Bildinhalte, ja werden selbst zum Bildinhalt. Figürliche oder gegenstandsnahe Elemente verlieren sich im Laufe ihrer künstlerischen Entwicklung zugunsten stofflicher Strukturgefüge und Motive, deren Materialien sich immer im Wirkungsbereich zwischen Fläche und Raum bewegen. Wichtig ist dabei die Form der inneren Bildstruktur. So benennt Sofie Dawo beispielsweise im Titel ihrer Arbeiten lediglich das Entstehungsdatum, um, nach eigenen Aussagen, eine unterschwellige transzendentale Bedeutung auszuschließen. Die Bildaussage konzentriert sich in der Materie und ihrer sich ergebenden Form. Diesen vordergründigen materiell-formalen Aspekt in der Kunst Sofie Dawos akzentuiert die Reduktion des Farbigen, besonders in den letzten zehn Jahren. Schwarz und Weiß behaupten sich von Anfang an über die nur spärlich eingesetzten buntfarbigen Stoffe und Garne. Da sich mit oder auch in der Buntfarbigkeit jegliche Plastizität aufzulösen droht, arbeitet die Künstlerin vorwiegend in Weiß oder Schwarz, um auch mit dem Bildmittel Farbe die Sprache des Materials, der Struktur und des Plastischen zur Geltung zu bringen. Sofie Dawo misst der optisch-haptischen Erfahrbarkeit ihrer textilen Bilder und Objekte großen Wert bei. Das Entdecken des Materials und das Erkennen seiner gestalterischen Möglichkeiten initiieren nicht nur den Schaffensprozess, sondern leiten darüberhinaus den Betrachter zur Bildform und zur Bildaussage.
Die Spannweite der Kunst Sofie Dawos wird offensichtlich in der Einheit zwischen materiellen Bildinhalten und dem Reichtum formaler Lösungen.
Waltraud Huth-Fox
aus: Sofie Dawo. Blieskastel 1996, S. 9-14
Redaktion: Claudia Maas
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