Wolfgang Nestler – Kontemplation mit dem Körpergefühl
Skulpturen konnten Jahrtausende lang luftig schwebende Tänzer oder massiv lastende Kolosse sein. Sie konnten Pfunde oder Tonnen spiegeln – ihr reales Gewicht blieb außer Acht: eins zu eins mit dem, was das Material auf die Waage brachte. Schwer und leicht waren keine künstlerische Kategorien. Erst der Russe Vladimir Tatlin spannte 1915 Eisendrähte zu federnden Brücken, hob ihre Schwerkraft auf und bezog die Physikalität der Skulptur mit ein. Doch dann lag die Chance zu einem immensen Terraingewinn ein halbes Jahrhundert brach. Erst gegen 1970, als die Wahrnehmung sich mehr und mehr auf den Bildschirm verengte, weitete die Kunst sich – im Gegenzug? – auf eine reichere Körpererfahrung aus. Ohne Rückgriff oder Anlehnung kam es, gegen die allgemeine Expansion des Visuellen, zu einem Neubeginn.
Wolfgang Nester war, parallel zu dem Amerikaner Richard Serra, der maßgebliche europäische Protagonist des neuen Paradigmas – denn es handelte sich um ein Paradigma, nicht um eine rasch erschöpfte Stilvariante. Serra dramatisierte damals das Gewicht schwerer Platten als Kraftprobe für Eisen, Stahl, Blei. In der Plastik "One Ton Prop (Kartenhaus)" rückt er 1969 vier Bleiplatten derart gegeneinander, dass sie sich stützen und halten. Sie stehen und fallen lediglich aufgrund ihrer eigenen Schwerkraft. Dem nachgiebig weichen Blei droht Gefahr, sich durch die angelehnten Lasten zu verformen und zu kollabieren. Dagegen inszeniert Nestler bis heute ein fragiles Kräftespiel von Eisenstangen, Gelenkstücken, Scharnieren oder balanciert massive Blöcke aus. In seinen Stücken aus Styropor wird der poröse Schaumstoff zum ebenso voluminösen wie leichtgewichtigen Neutrum, dessen Position oder sicherer Stand sich einzig einem eingeschobenen Eisenstück verdankt: eine besonders kühne Konzeption aufgrund von Eigenschaften des Materials. Um 1970 unterbricht er einen 140 cm großen Holzreif durch ein Stück Eisen. Der Reif ist an einem Ring an der Wand aufgehängt. Durch die einseitige Verlagerung des Schwerpunktes auf das Eisen bewegt er sich und verschiebt sich in seinem Verhältnis zur Wand, je nach der Position des eisernen Zwischenstückes. Die konkrete Physikalität ist in eine Plastik übersetzt, die nicht nur logisch funktioniert und eine grafisch reizvolle Wandzeichnung darstellt, sondern auch ein klassisches Thema der Plastik, die Balance des Schwerpunktes – den Kontrapost – in äußerster Abstraktion neu formuliert. Verglichen mit den subtilen Gewaltakten des Amerikaners: eine geradezu kammermusikalische Kontrapunktik aus Ponderation, Gravitation, Druck, Zug, Last. Und doch geht keine Plastik in ihrer Mechanik auf.
Und doch ist sie weit mehr als eine physikalische Versuchsordnung. Keine programmiert Handlungen, die nur Veränderungen sind. Jede pointiert eine Gesetzlichkeit, die eine Folge fruchtbarer Momente enthält. Jede basiert auf absoluter Ökonomie, die, ohne ein Gramm Ballast, in bildnerische Spannung übertritt.
Nur so schlägt physikalische Logik in Ästhetik um. Nur so wird der Eisenbilder Nestler vom homo faber zum homo ludens. Formenvielfalt und Reduktion, Verdichtung und Auflösung von Spannungen, schlüssige Kraftlinien und die Eloquenz des Materials sind bestechend. Doch indem Nestler seine Skulpturen immer neu verstellt, einstellt, auswiegt, neu fixiert, veranlasst er mehr als eine elegante Selbstdarstellung des Materials: Er bringt in der Plastik Körpererfahrungen zum Austrag, in denen unsere eigene Körpererfahrung sich wieder findet. Nicht als Akt skulpturaler Artistik, sondern als Suche nach innerer Ausgewogenheit. Nicht als Vergleich zweier Konstellationen, sondern als Gleichnis menschlicher Befindlichkeit. Jedes Stück besitzt eine spezifische Psychophysik. Denn Plastik ist für Nestler auch eine sehr persönliche, ja, intime Form, das eigene Harmoniebedürfnis auszudrücken – um ein äußeres Gleichgewicht zu finden, das zu einem inneren Gleichgewicht kommt. In dieser Kontemplation auf dem Schwebebalken ist jede Plastik zentriert.
Nestler steht mit der Ausweitung unserer fünf Sinne nicht allein. In der Plastik sind es, neben Serra, z.B. Klaus Rinke, Reiner Ruthenbeck oder Alf Schuler, die der Physikalität eigene Interpretationen geben. Aber auch der amerikanische Psychologie John Gibson entdeckte, zusätzlich zu unseren klassischen fünf Sinnen, fast gleichzeitig einen sechsten Sinn: eine „Basisorientierung“ für Schwere und körperliche Balance, für die Empfindung von unten und oben. Mit Künstlern wie Nestler hat die Kunst sich auch diesen Sinn erobert. Jahrhunderte lang galten einzig Auge und Ohr als Organe zur Aufnahme von Kunst. Platon, Déscartes, Hegel bestritten dem Körper als Ganzes die Fähigkeit, ein künstlerisches Sensorium zu sein. Gegen diese Tradition wendet sich ein wesentlicher Strang der zeitgenössischen Plastik. Wolfgang Nestler leistet, als Pionier, einen präzis ausgewogenen Beitrag dazu.
Manfred Schneckenburger
Einige Gedanken zu Wolfgang Nestlers Werken
Nur auf den ersten Blick erscheint Wolfgang Nestlers Vorgehensweise in das Problemfeld des Skulpturalen einfach und einleuchtend. Dann aber wird, allein durch die Einsicht in die Vielfalt und Materialnutzung, deutlich, daß wir es mit einem einerseits gedankenvollen, andererseits sinnenhaft bewegten Arbeitsfeld zu tun haben. Eisen und Stahl sind seine bevorzugten Ausdrucksträger. Die Bearbeitung geschieht durch Schmieden, Zerteilen, Gießen und Schweißen, immer so, daß im einzelnen Werkstück der spezifische Charakter jedes Details offenliegt und eine optimale Expression der Skulptur - als jeweiligem Endresultat - erreicht wird. Nestler kennt die gegenwärtige Szene der Metallskulpturen ganz genau, ihren Bewegungsspielraum zwischen Gelagertem, Lehnendem, Montiertem und Aufragendem. Auch die Spannweite zwischen Zeichenhaftem und Lastendem, Grazilem und Wuchtigem, weiß er ins eigene Blickfeld zu fassen. Daraus hat er ein feinfühliges Instrumentarium entwickeln können, welches ihn davor bewahrt, an irgendeiner Stelle die Dosierung der eigenen Mittel zu übertreiben. Man darf sich durch die herbe Strenge des Erscheinungsbildes seiner Arbeiten nicht dazu verleiten lassen, sie puristisch zu finden. Immer verdienen sie eingehende Betrachtung und enthüllen dabei Einzelmotive der Ponderation, Abmessung, Gliederung und Materialkombination, die über den notwendigen Anspruch der formalen Funktion hinaus schlichtweg eine poetische Ausstrahlung entfalten. Und dies tun sie durchaus innerhalb des konzipierten Rahmens der strengen Erscheinung. Nestlers Besonderheit als Bildhauer ist die wortlose Sicherheit, mit der er alles Überflüssige, Bekräftigende vermeidet, um seinen Werken einen möglichst hohen Grad von Reinheit und Unbezweifelbarkeit zu verschaffen. Im Innenraum kommen, von ausdrücklich großdimensionalen Arbeiten im Freiraum abgesehen, seine Skulpturen deshalb zu besonderer Wirkung, weil sich Nestler bei der Platzierung in ganz bestimmter Weise auf das jeweilige Raumvolumen bezieht. Das kann soweit gehen, daß der Betrachter eine unmittelbare Beziehung zwischen Rauminhalt und Werk gefühlsmäßig zuspüren meint. Eine von Nestler vollzogene Besetzung von Räumen hat etwas Definitives, das dem Wesen der zeitlich begrenzten Ausstellung widerspricht. Man wünscht ihr unwillkürlich Dauer, muß aber dann erkennen, daß an anderem Ort eine neue, frische, keinesfalls weniger schlüssige Raumfassung gefunden wird. Ein Wesenszug, der ihn übrigens mit Joseph Beuys in Verbindung bringt, der Zeit seines Lebens ganz spezifische Ausstellungsinszenierungen vorstellte. Nestlers Intentionen gehen über den Entfaltungsweg der eigenen Arbeit in ganz bemerkenswerter Weise weit hinaus. Seine Schülerateliers in den geduckten Raumfolgen der Handwerkerstraße der Völklinger Hütte, eine von ihm konzipierte Außenstelle der Kunsthochschule des Saarlandes, atmen verwandten Geist. Hier wird voraussetzungsfreies Zeichnen geübt, eine Praxis von unvergleichlich primärem Ansatz der ganz und gar das Erwerben zeichnerischer Fertigkeit beiseite läßt. Stellt man diesen erzieherischen Ansatz dem ausgereiften, auf Erfahrung und Beherrschung ruhenden skulpturalen Oeuvre Nestlers gegenüber, so wird vielleicht etwas von dem Entwicklungsgang des Bildhauers deutlich, der sich jedenfalls überzeugend auf primäre Formstrukturen zurückführen und gründen ließe. Unter diesem Blickwinkel würde die Klarheit seiner heutigen Werke zugleich Dokument eines Klärungsprozesses. Dabei nimmt das gewählte Material nicht nur letztliche Trägerfunktionen wahr. Es ist seine metallenen Konsistenz, zugleich eigenständig-mächtiges Medium. Eisen und Stahl bietet viele Erscheinungsformen. Von der lastenden Schwere des gegossenen Blocks zur federnden Elastizität des Bandstahls ist, bei gleicher Ausgangslage, nicht nur materiell prozessual ein weiter Weg, der Ausdruckswert des Materials wird gewandelt. Nestler arbeitet mit einer ganzen Reihe von gefertigten Halbzeugen. Profile und Querschnitte definitiven Charakters stören ihn nicht. Sie werden in die Genese seiner Werkstücke verwandlungsfrei integriert. Es geht ihm also keineswegs um Umformung. Das gewählte Formelement wird vielmehr befragt auf seine Eigenheit hin und im Hinblick auf sein Verhältnis zu den übrigen Komponenten. Es handelt sich aber keineswegs um ein kombinatorisches Spiel von Formelementen. Nahezu immer treten Verfestigungen hinzu, die der Ausdeutbarkeit Grenzen setzen. Ausschmiedungen, Verschweißungen, Verschraubungen, kurz Konzentrationen, die technoiden Züge ins Künstlerische treten lassen könnten. Bei Nestler sind sie im skulpturalen Geiste eingebunden. Ihre Erscheinung ist allein durch ihren an der wesentlichen Stelle eingesetzten Formwert verwandelt, ohne dass dazu ein modifizierender Eingriff erforderlich wäre. Freilich seine Materialien haben einen jungfräulichen Charakter. Das auf Fundstücke aufgebaute oder aus Residuen entwickelte Objekt ist dem Nestlerschen Einzelwerk und der Gesamtheit seines Oeuvres gegenübergestellt. Daher wecken seine Arbeiten auch keine Assoziationen in Richtung der Figuration. Ihre Ganzheit hat eine Autonomie, die von allen Einschränkungen und Bindungen, Verweisungen und Abhängigkeiten befreit ist. In diesem Sinne ergibt sich eine wortlose Präsenz ohne interpretatorische Notwendigkeiten und Hilfen. Eine Gestalthaftigkeit von großer Selbstgenügsamkeit inmitten der verbal so überbordenden Gegenwart der Kunst.
Hans van der Grinten (†)
(aus: Wolfgang Nestler - Rastplatz für die Windstille. Skulpturen und Projekte. Hg.: Cornelia Wieg. Halle 1999, S. 6f)
Redaktion: Claudia Maas, Oranna Dimmig
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