Kybernetisch fühlen, kybernetisch denken, kybernetisch gestalten
Wilfried Maret wurde 1940 in Berlin geboren. 1942 wurde die Familie von Berlin an den schwäbisch-bayrischen Fliegerhorst Penzing bei Landsberg am Lech evakuiert. Erste Anzeichen einer musischen Begabung lassen sich erkennen, als er in der Schule durch zeichnerische Naturstudien und regelmäßige Bestnoten im Fach Kunsterziehung auffällt. Nachdem ihn auf dem Schulweg immer wieder Plakate von Herbert Leupin elektrisiert haben, geht seine Suche nach einem Beruf ab etwa 1956 in Richtung Werbegrafiker.
Mit seinen autodidaktischen Zeichnungen und den Zeugnisnoten aus dem Kunsterziehungsunterricht von Oberstudienrat Konrad Büglmeier in Landsberg gelingt ihm 1957 die Aufnahme an der Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken, wo er von Robert Sessler ausnahmsweise vor der Grundlehre von Oskar Holweck in die Grafikklasse aufgenommen wird, unter der Bedingung, nach der Grundlehre in die Grafik zurückzukommen. Dass seine Hartnäckigkeit bei der Verfolgung seiner beruflichen Vision nicht umsonst war, bestätigt ein in diesem "Verlegenheitsvorsemester" alsbald gewonnener Preis (Ankauf: 100.- DM) bei einem Signetwettbewerb für das Deutsche Studentenwerk e. V. zum Thema "Geborgenheit im geistigen Raum".
Die Grundlehre von Oskar Holweck (1958/59) wird für ihn zu einem Schlüsselerlebnis. Seine Ambivalenz zwischen freier und angewandter Gestaltung bringt den Studenten dann in Konflikt mit seinem Versprechen an Robert Sessler, sofort nach der Grundlehre in die Grafikklasse zurückzukehren, denn er möchte die Zeit bei Oskar Holweck trotz finanziell prekärer Lage noch frei von kommerziellen Gedanken sanft auslaufen lassen. So bewirbt er sich zur absoluten Verzweiflung seiner Eltern, die nach Rückkehr des Saarlands in deutsches Staatsgebiet auch wieder nach Saarbrücken gezogen sind, in der Klasse für freie und angewandte Malerei bei Boris Kleint, obwohl im Zeugnis von Oskar Holweck (gegengezeichnet von Otto Steinert) ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass seine Eignung für den grafischen Beruf außer Zweifel steht. Das unbeirrbar an die Grundlehre angehängte "freie" Zusatzjahr bei Kleint (1959/60) möchte er vor allem dazu nutzen, um bei Holweck begonnene kybernetisch-kinetische Studien weiterzuverfolgen, wobei es ihm ein besonderes Anliegen ist, von der Fläche in den Raum zu gehen und gleichzeitig noch in die Dimensionen von Bewegung und Zeit zu kommen.
Der Abschluss des Studiums in Saarbrücken erfolgte schließlich mit einem Diplom in Grafikdesign bei Robert Sessler. Den Vorsitz der Prüfungskommission hatte Anton Stankowski.
So wie es 1957 die autodidaktischen Naturstudien und die Noten aus dem Kunsterziehungsunterricht der Oberrealschule Landsberg am Lech waren, mit denen Wilfried Maret – ohne Abitur und ohne Handwerkerlehre – die Aufnahme an der Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken geschafft hatte, waren es 1963 die Arbeiten aus den Jahren an der Schule in Saarbrücken, insbesondere jene aus der Grundlehre von Oskar Holweck und die "privaten" Arbeiten in seinem "Hühnerstall-Atelier" auf dem Triller, die Wilhelm Braun-Feldweg bewogen haben, ihn direkt ins 6. Fachsemester, d. h. ins Diplomsemester für industrielle Formgebung an der Hochschule für bildende Künste in Berlin aufzunehmen. Die Förderung durch Braun-Feldweg ging so weit, dass er seinen Schüler für das begehrte Stresemann-Stipendium der Stadt Berlin vorschlug, das, nur einmal im Jahr vergeben, fortgeschrittenen Studenten dieser Hochschule ein Semester an einer Schule im Ausland ermöglichen sollte.
Mit diesem Stipendium ging der Anwärter auf ein zweites Gestalterdiplom dann, nachdem er Paris schon von Saarbrücken her regelmäßig per Autostopp besucht und die dortigen Kollegen bereits vor Ort studiert hatte, ans Royal College of Art nach London, an die renommierte School of Industrial Design (Engineering) von Sir Misha Black und an die School of Graphic Design von Richard Guyatt. Von Misha Black wurde er nach ersten Bedenken ebenfalls direkt in den Diploma Course aufgenommen, sodass ein zweites Diplom, diesmal in Industriedesign, entweder in London oder in Berlin in der Luft lag.
Infolge eines extremen, in London schließlich nicht mehr überwindbaren finanziellen Engpasses fiel 1964 die Entscheidung, das zweite Diplom und eine naheliegende Hochschulkarriere aufzuschieben, und ein Jahr als Stagiaire in die Schweiz zu gehen, um auch die dortige Gestalterszene und deren Wirken vor Ort zu studieren und gleichzeitig noch etwas Geld zu verdienen. Dieser Entschluss war das Aus für eine akademische Laufbahn, denn das Zwischenjahr bei der jungen hochwissenschaftlichen Varian Associates aus Palo Alto – die Brüder Russell und Sigurd Varian gelten neben William Hewlett und David Packard als Gründerväter des Silicon Valley – hat sich in einer derart fulminanten Art und Weise entwickelt, dass eine Rückkehr nach London oder Berlin, nur um noch ein 14. Semester für ein Diplom in Industriedesign anzuhängen, ihren Reiz schlagartig verloren hatte. Die europäische Keimzelle von Varian war im ländlichen Zug zwischen Zürich und Luzern gerade von einer Dreizimmerwohnung in eine kleine Büroetage gezogen, und der "ewige Student" witterte seine Chance, als interner Mentor und Macher für diese junge progressive High-Tech-Firma ein globales Corporate-Design-Programm zu konzipieren und zu realisieren und damit auch die Corporate Identity des weltweit tätigen Unternehmens mit seinen faszinierenden Leuten aus der Stanford University und seinen zukunftsweisenden technischen Produkten mitentwickeln zu können, als er sah, was diesbezüglich in Amerika bisher gestaltet worden war.
"Zwischen Bill und Beuys" – Mit dieser kunsthistorisch stringenten Klammer lässt sich das Werken und Wirken von Wilfried Maret ebenso einfach wie anschaulich abstrahieren und einordnen. Er möchte diese beiden hinlänglich bekannten Exponenten aus Design und Kunst nur als Kürzel zum besseren Verständnis seiner breitgefächerten Position benutzen, denn auch nach seinem ebenso glücklichen wie aufreibenden Einstieg in die kommerzielle Berufspraxis als Designer und Unternehmensberater sieht er seine freie Gestaltungsarbeit noch immer als tragendes Element seines gesamten Schaffens. Das setzt sich dann bei seinen Mandaten als freischaffender Marken- und Produktentwickler weiter fort. Das aufgrund seiner zeitlichen Dimension von 18 Jahren in Folge besonders bemerkenswerte Computer- und Telekommunikationsmandat "Datasaab-Ericsson-Nokia-ICL" beginnt 1975 als rollendes Projekt aus seiner Mitarbeit im Graphisverlag bei Walter Herdeg in Zürich heraus, wo er an der renommierten Fachzeitschrift "Graphis" und an den ebenso hochstehenden Jahr- und Fachbüchern vom Layout bis zur Produktion mitarbeitet. Und obwohl ihm Walter Herdeg – mit seinem Landsmann Robert Sessler in Saarbrücken gut bekannt – alsbald die Konzeption, Gestaltung und Produktion der Werbedrucksachen seines Verlagshauses weitgehend eigenständig überlässt, die er bisher akribisch selbst betreut hatte und nicht aus der Hand geben wollte, springt sein Mitarbeiter 1975 mit 35 Jahren mitten im ersten Ölschock mit seiner jungen Familie – seine Tochter ist gerade vier, sein Sohn ein halbes Jahr alt – ins tiefe Wasser der selbstständigen Berufsausübung.
Zuvor hatte er sich mit "Design – wozu?" in einem Grundsatzbeitrag über sein berufliches Selbstverständnis in der Fachzeitschrift "Schweizer Maschinenmarkt" (Nr. 14/1974) seiner angestrebten Zielgruppe vorgestellt. Das Fazit dieses Artikels lautet: "Design muss sich schlechthin mit allen Verhaltensweisen des Menschen identifizieren, die sinnvolle Ordnungen, Verbesserungen und Bereicherungen im weitesten Sinne stiften. Unser Einsichts- und Handlungsvermögen bleibt hier bisher noch weitgehend durch scheinbare Prioritäten irreführender Teilbereiche verstellt."
Im Rahmen seines bereits erwähnten kommerziellen Langzeitmandats gelingt ihm 1985 mit der Konzeption und Kuratierung von Galerie-Atelier "E" bei Ericsson Information Systems in Zürich nach Einschätzung des Wissenschaftlers, Science-Fiction-Autors und Computerkünstlers Herbert W. Franke eine organisatorische Pionierleistung im Bereich der Computerkunst an kunsthistorisch weltberühmter DADA-Lage. Innerhalb der nächsten 6 Jahre treten hier bis 1991 in 32 Ausstellungen und Performances zukunftsorientierte Künstler aus aller Welt auf mit zwei- und dreidimensionalen Werken aus und mit dem Computer, begleitet von 10 Workshops über Computermusik.
Nach der Entwicklung einer Reihe von Funktionsprototypen wettergeschützter E-Bikes und E-Trikes seit der Jahrtausendwende, die er interdisziplinär mit künstlerischen Designkonzept-Performances zum Thema "Schubumkehr im motorisierten Individualverkehr" verbindet, wendet er sich 2017 an der 1. Internationalen Biennale von Stansstad wieder dem freien künstlerischen Schaffen zu. 2018 eröffnet er das bereichsübergreifende "design+artLAB postmoderne" im Coworking Space der Office LAB AG Postplatz in der alten, denkmalgeschützten Hauptpost von Zug (Schweiz) mit dem Ausstellungszyklus "Art Meets Science, Technology and Nature".
Gefragt nach den Beweggründen für sein Schaffen zitiert der als Designer und Künstler bereichsübergreifend arbeitende Gestalter gerne den Psychoanalytiker und Psychotherapeuten Michael Titze, der zu den Pionieren des Therapeutischen Humors und der Gelotologie gehört, und der zweifellos sehr ernst gemeint hat: "Sein hat Sinn im Werden. Menschliches Dasein hat Sinn, dies zu verstehen und bei sich selbst zu vollziehen. Ohne Sinn des Werdens hat Sein keinen Sinn. Dies gilt für alles in der Welt."
Daraus folgt für den interdisziplinär arbeitenden Gestalter die Erkenntnis: Kunst hat Sinn im Werden. Künstlerisches Dasein hat Sinn dies zu verstehen und an sich selbst zu vollziehen. Ohne Sinn des Werdens hat Kunst keinen Sinn.
Hier schließt sich der Kreis zur Grundlehre seines primär prägenden Lehrers Oskar Holweck, die für ihn im Laufe seines Lebens und Arbeitens immer mehr zu einer universellen Bildungslehre jenseits einer reinen Bildlehre geworden ist.
Réka Maret
Institut für aktuelle Kunst im Saarland, Archiv, Bestand: Maret, Wilfried (Dossier 10108)
Redaktion: Claudia Maas
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je Kunstwerk | 50 € | 30 € | 80 € |
Für alle Entleiher gilt: