Dietmar Binger hat in nahezu allen Medien gearbeitet, die dem künstlerischen Werkprozess zur Verfügung stehen. Er begann mit figurativer, gleichwohl abstrahierender Malerei, entwickelte sich über eine Druckgrafik, die motivisch der Pop Art nahestand, und eine großformatige, im Gestus völlig freie Malerei hin zu einer Ausweitung in die dritte Dimension des Reliefs und der Skulptur. Danach waren langjährige Untersuchungen der Grundbedingungen von Raumwahrnehmung an der Reihe, die in teilweise sehr große Installationen mündeten - und dann folgte erst einmal: nichts. Anfang der 1990er Jahre wagt der Künstler einen radikalen Schnitt, ordnet sein Archiv, widmet sich der Fotografie und von dort aus jenen systematischen Untersuchungen, die inzwischen sein Bild in der Öffentlichkeit prägen. Und genau von dem Blick zurück aus, der hier gewagt werden soll, erschließt sich die ebenso präzise wie umfassende Systematik, die das Lebenswerk des Künstlers Dietmar Binger auszeichnet.
Seit den 1980er Jahren unterteilt Dietmar Binger sein Œuvre in so genannte "Werksätze", wobei er diesen Begriff bewusst von Franz Erhard Walther ausgeborgt hat, weil auch dieser sein Gesamtwerk auf einer Wahrnehmungslehre aufbaut, die mehr ist als die nur physiologische Grundlage allen künstlerischen Arbeitens und damit eines sinnstiftenden menschlichen Tuns jenseits der reinen Lebenserhaltung. Doch neben einigen malerischen Anfängen steht für die Arbeit des Künstlers auch die Reflexion menschlicher Grundfragen im Vordergrund - die Auseinandersetzung mit den Eros- und Thanatos-Motiven in der Psychoanalyse Sigmund Freuds steht ebenso am Anfang der künstlerischen Karriere wie die intensive Beschäftigung mit Arno Schmidt und mit seinem Ideal eines zurückgezogenen, nur der Arbeit und der Kontemplation gewidmeten Lebens, wie es dieser Autor in Bargfeld versucht hatte. Kleinformatiges Arbeiten am Küchentisch war für Dietmar Binger mehr als nur eine ökonomische Entscheidung; sie hatte mit Motivwahl, selbstgewählter Lebensform und einer daraus resultierenden Systematik des künstlerischen Werks zu tun. Und wer Dietmar Binger heute in seinem Atelier besucht, mag den Karteikasten des Schriftstellers durchaus im Hinterkopf behalten: Er taugt auch hier als Basis eines Zugangs zum Werk.
Bis in die frühen 1990er Jahre folgt das Œuvre Bingers der klassischen Entwicklung einer künstlerischen Biografie, wobei manche Sprünge und Diskontinuitäten auch der autodidaktischen Bildung des Künstlers geschuldet sein mögen. Die kleinformatigen Übungen der späten 1950er und frühen 1960er Jahre werden um 1968 von einer grafischen Bildgruppe abgelöst, die mit den Mitteln der Pop Art bereits die Ikonografie des Gesamtwerks auslegen - die formal strenge Anverwandlung alltäglicher, oft geradezu banaler Gegebenheiten in konstruktivistischer Manier und die lustvolle Thematisierung jener Geschlechterdifferenzen, die als Attraktoren fungieren. Auch hier mag die freudianische Selbstreflexion prägend gewesen sein: Wo bei den räumlichen Arbeiten Zwischenräume und insbesondere Treppen ausgefüllt und geglättet werden, füllt sich die darstellende Bildwelt mit großen Brüsten und prallen Frauenleibern. Doch sowohl die Akzeptanz der gegebenen Lebenswelt wie die Traumhaftigkeit erotischer Wünsche werden nie um ihrer selbst - und schon gar nicht um eines Aufmerksamkeits-Kalküls - willen zum Ausgangspunkt einer Arbeit, sondern unmittelbar einer strengen Systematik der Bildwerdung wie -analyse unterworfen, die das gesamte Œuvre Dietmar Bingers durchzieht.
Den kleinformatigen Grafiken und Zeichnungen folgen großformatige Malereien, oft mit starker Gestik und grober Auflösung der letzten figürlichen Bildreste, die noch erkennbar sein mögen. Dietmar Binger erprobt hier seine bewährte Farbpalette - nach koloristischen Anfängen überwiegen helle Töne auf weißem Grund - und erprobt ihre Grenzen; Bildtitel wie "Erstmal alles weiß streichen" stehen bereits für das kommende Programm und die endgültige Verabschiedung von der Freundlichkeit pop-künstlerischer Weltsicht. Dazu gehört auch, dass sich Dietmar Binger vollständig von der starken Konturierung seiner frühen Arbeiten löst; die harten kantigen Formen verschwinden zugunsten einer fahrigen Schraffur ohne fixierte Außenform. Noch bleiben einige Elemente wie Körperformen erkennbar, doch meist übernimmt der Pinselstrich oder eine Tropfenform die Aufgabe der Beruhigung des Auges. Typisch für den Künstler auch in dieser Zeit ist, dass selbst in den größten Formaten die Faktur der Bilder flach, im weitesten Sinn des Wortes medial bleibt - etwa in der Weise, wie sie von László Moholy-Nagy als Lichtfaktur benannt wurde.
Aus der Bewältigung großer Formate von mehr als zwei Metern Höhe erwächst für Dietmar Binger nahezu genuin der Wunsch nach einer Ausdehnung in die dritte Dimension; der Autodidakt erarbeitet sich die malerischen Traditionen der klassischen und späten Moderne. Zunächst beginnt er damit, die Leinwand aufzuschneiden und die dabei entstehenden Formen vor- oder zurückzuklappen. Doch erweist sich diese Handlung als nicht tragfähig genug für einen größeren Werkkomplex; nach wenigen Bildern ist die Arbeit auf der Leinwand an ein Ende geraten. Dietmar Binger wendet sich daher Formen der Assemblage zu, die ebenfalls noch in der Größe der "geschlitzten Malerei" ausgeführt werden. Ganz konsequent wird die malerische Arbeit des Künstlers 1986 mit einer doppelten Installation von "2 Orte - 2 Situationen" in der Stadtgalerie Saarbrücken abgeschlossen, bei der die Malerei aus der Wand in den Raum hinein wächst, teilweise mit größeren Formen wie Zeltplanen als Bodenskulptur weit in den oberen Saal des Hauses hinein. Die Farbe ist den Reizen der Materialoberflächen gewichen, und die Objekte zur Fixierung der Seile, an denen die Leinwände und Planen hängen, werden selbst zum Teil einer skulptural wirkenden Installation. Das Material gewinnt die Oberhand gegenüber dem malerischen Gestus.
Den ersten von Dietmar Binger ausdrücklich so benannten Werksatz bildet demnach die Gruppe "Fundus", die er um 1986 beginnt. Hier erarbeitet er sich den Raum, den er zuvor quasi spielerisch durch das Ausweiten der Malerei von der Wand weg erobert hatte, noch einmal neu, und zwar ganz systematisch: Er definiert simple Objekte aus dem Alltag, multipliziert sie (und verfremdet sie in der Vereinheitlichung durch eine Naturkautschuk-Versiegelung) und stellt sie in den Raum. Zunächst in einer Reihe als Linie, dann im Winkel für eine Definition der Fläche, schließlich im Arrangement auf Regalen mit einer Höhen-Fixierung. Denselben Effekt kann er auch in Einzelobjekten erzielen, wenn er einen Stab gegen die Wand lehnt, diesen dann als Rinne aushöhlt und schließlich mit anderen Stäben zu einem Dreikant vereinigt. Doch während die einzelnen Objekte wie Übungen aus den Grundlagen bildnerischen Gestaltens wirken - ein generelles Spezifikum des Konkreten in der bildenden Kunst –, erfährt der Werksatz "Fundus" seine große Wirkung, wenn er seinem Namen genügt: Dutzende dieser Objekte werden in den Raum gestellt, auf Regalen und als Riegel durch eine Ausstellungshalle postiert, sodass sie einerseits tatsächlich wie der Fundus einer längst vergangenen Inszenierung wirken und andererseits den Blick auf eine doppelte Raumsituation lenken, die das einzelne Objekt als Volumen definiert und die Gesamtheit aller Objekte in der gegebenen Ordnung als Raumerschließung fungieren lässt.
Der nächste Werksatz, um 1990 begonnen und wie der vorherige 1995 endgültig abgeschlossen, ist dagegen als Raum-Verschließung angelegt. Mit dem Recycling-Material "isofloc" des Werksatzes "Die Entdeckung der Welt" füllt Dietmar Binger Zwischenräume aus, glättet Kanten und ergänzt flächige Elemente durch die Hinzufügung einer dritten Dimension. So werden einige Schulstühle zusammengestellt und ihr Zwischenraum verdichtet, entsprechend auch Paletten, Heizkörper und Leitern ausgefüllt. Zudem werden auf gegebene Quadrate, etwa eines Badezimmers, kleine Quader gesetzt oder die Stufen einer Treppe mit einer Diagonale geglättet. Materialgemäß - der Werkstoff wird industriell als Dämmmaterial unter Hochdruck in vorgeschaltete Kammern geblasen und gepresst, während der Künstler die von ihm verwendeten Formen allein durch den Druck seiner Hände erstellt - existieren diese Arbeiten nur für kurze Zeit, denn sie zerfallen bei der leichtesten Berührung. Also müssen alle Installationen dokumentiert werden, selbstverständlich am besten mithilfe der Fotografie. Zunächst bemüht der Künstler noch befreundete Fotografen, doch als 1993 im Kunsthaus Essen, in bester Tradition der konkreten Kunst, eine ganze Reihe situativer Arbeiten von delikaten Raumbezügen entstehen, stellt Dietmar Binger fest, dass er wohl selbst am besten versteht, wie die Werke abzulichten seien. Komplexe Aufgaben der fotografischen Technik scheinen ihn dabei nicht zu plagen, denn die dunklen Objekte in hellem Raum werden mit präziser Handwerklichkeit aufgenommen und in prägnanten Bildern so zusammengefasst, dass alle Situationen direkt rekonstruierbar erscheinen.
Damit ist für Dietmar Binger - auch darin festen Traditionen einer künstlerischen Avantgarde folgend, in der viele fotografische Karrieren mit der Reproduktion eigener Arbeiten begannen - die nächste Werkphase eröffnet, die mehr ist als die Erstellung eines oder mehrerer Werksätze. Raumaneingung und Raumverschließung hat er vollständig praktiziert, zeitweise auch in den Räumen, die nun als Stadtgalerie in Saarbrücken neu bespielt werden, und für sechs Jahre begleitet Dietmar Binger die dort installierten Inszenierungen, hilft den Künstlerinnen und Künstlern beim Aufbau und - fotografiert sie. Hier beginnt das Medium seinen Eigensinn gegenüber der Reproduktion als historischer Funktion zu entwickeln: Eingefangen werden die Momente kurz vor der Fertigstellung und Eröffnung, kurz vor den Pressefotografien, die für die Außendarstellung gebraucht werden. Dietmar Binger findet sofort die richtige Form für seine Bilder, die er später als Werksatz "Backstage" bezeichnen wird, indem er extrem hochempfindliche Filme verwendet, deren grobes Bildkorn exakt mit dem Firnis einer abgeschlossenen Ausstellung im Moment der Vernissage korrespondiert. So flächig, wie das Chiaroscuro der barocken Räume im Korn der Bilder verschwindet, so flach kann anschließend nur das Material einer Zeitungspublikation sein. Ganz nebenbei kann sich Dietmar Binger auf eine weitere, ebenso materielle wie konkrete Parallelität im eigenen Werk berufen: Die Struktur seiner "isofloc"Werke ist nahezu identisch mit dem groben Korn der "Backstage"Fotografien, und beide verbinden sich im selben Raum, zwar zu verschiedenen Zeiten, aber doch nahe genug aneinander, um im Œuvre strukturell wirksam zu bleiben.
Binnen weniger Jahre - und durchaus im Bewusstsein einer verspätet nachholenden Entwicklung angesichts der zunehmenden Digitalisierung des Mediums - durchläuft Dietmar Binger die moderne Geschichte der Fotografie: Reproduktionen und Installationsaufnahmen mit Mittelformat, niedrig empfindlichen Filmen und präziser Ausarbeitung, Bildjournalismus mit Kleinbildkamera, höchst empfindlichen Filmen und eher ephemerer Bearbeitung; schließlich dann die Auseinandersetzung mit dem Sofortbildverfahren Polaroid im Werksatz "Promenade - Jetzt/Hier" zwischen 1993 und 1998. Zunächst einmal erscheinen die Bilder und ihre Motive banal, simpel auf dem Weg von und zur Arbeit im Stadtgebiet St. Johann aufgenommen und als ikonische Sujets durchdekliniert, vom Sonnenuntergang bis zur plakativen Straßen-Raum-Himmel-Situation; doch bedeutet diese Erarbeitung fundamentaler Gestaltungsprinzipien mit der Polaroid-Kamera im Kontext der anderen Werkgruppen mehr. Wieder kehrt der Künstler zu seinen Anfängen zurück: Das Verfahren evoziert durch seine metallenen Farbstoffe eine enorme Tiefe, das scheinbare Quadrat - de facto ein Hochformat im Verhältnis 97 zu 100 - produziert eine Guckkasten-Perspektive, und die eigen-artige Lichtfaktur aus durchstrukturierten Oberflächen mit weicher Kontur schließt nahtlos an den drucktechnischen Experimenten aus Dietmar Bingers Frühzeiten an. Doch noch bedeutsamer für die weitere Entwicklung des Œuvres wird die Präsentation dieser Bilder in dicken Passepartouts und großen Rahmen: Die kleinen Bilder werden zu großen Ensembles mit strenger Rasterung. Und obwohl der Künstler in den Werkfotografien der zugehörigen Katalogpublikation deutlich darauf hinweist, ist dieser konstruktivistische Umgang mit den Bildern seinerzeit keinem Interpreten aufgefallen.
Genau diese Konkretisierung von vorhandenen Bildern markiert einen wiederum radikalen Bruch des Künstlers mit seiner eigenen Werkgeschichte, und zwar indem er gerade diese Vergangenheit zum Thema der weiteren Arbeit macht - bis heute unter dem Obertitel "JMT" (Jahr Monat Tag), der eine ganze Reihe von Werksätzen umfasst. Einmal mehr kommen hier, ganz in der freudianischen Psychoanalyse angelegt, die beiden existentiellen Pole Eros und Thanatos zu ihrem Recht und legen die motivische Wahl von Sujets fest, die einer konstruktivistischen Weiterverarbeitung zugeführt werden. Mehr als ein Jahrzehnt arbeitet Dietmar Binger hierbei an mehreren parallelen Werksätzen, die in Form und Arbeitsweise durchaus Ähnlichkeiten aufweisen, aber im Zugang zur Form ihrer künstlerischen Realisierung sehr unterschiedlich erscheinen. Diese großen Werksätze werden von einzelnen Arbeiten durchschossen, die auf grundsätzliche Fragen des umfassenden Konzepts hinweisen. Alle Gruppen sind aus einem gemeinsamen Antrieb entstanden, der - für jeden Künstler existentiellen - Frage nach dem, was bisher entstanden ist.
Dietmar Binger hat am Ende der 1990er Jahre die digitale Fotografie für sich entdeckt, insbesondere die verschiedenen Möglichkeiten der - prinzipiell unendlichen - Reproduktion und formalen Auflösung des Einzelbildes darin. In einer Form der Selbstvergewisserung hatte der Künstler bereits seit 1990 damit begonnen, sämtliche Werke seines bisherigen Œuvres zu reproduzieren, auf Karteikarten und in Ordnern zu sammeln und mit dem während des gesamten bewussten Lebens geführten Tagebuch zu korrelieren. Diese Arbeit gewinnt durch die digitale Reproduktion einen neuen Schub, da die bisherigen Karten und Datenblätter nun in jeder Form und Größe verfügbar werden und damit zum Material der kommenden Arbeiten.
Eine ganze Reihe einzelner Arbeiten thematisieren das bisher geschaffene Werk, indem etwa stark verkleinerte Reproduktionen (mit den Bilddaten jeweils auf der Rückseite) in großer Menge zusammengefasst werden, dabei entweder in einen gemeinsamen Sack gepackt oder aber je in einer Gruppe von hundert identischen Kopien in Klarglasbehälter eingefüllt werden ("Miniaturen", 2003 ff.). Passend dazu gibt es einen "Werkpegel" und einen "Werkkompress/ Zeitkerne" (beide 2006) sowie eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem deutschen Wort Zeit und seinen Composita ("Zeitzone", 2007).
Immer wieder werden diese Kompilationen neu zusammengefasst, digitalisiert und in einer jeweils anderen, prinzipiell gut nachvollziehbaren Form realisiert. Das Ergebnis sind immer streng konstruktivistische Anordnungen zeitlich gebundener Elemente, darin durchaus Arbeiten von On Kawara, Hanne Darboven und anderen Konzeptualisten ähnelnd. Eine strukturell ähnliche Arbeit hat Dietmar Binger der Romanserie "Angélique" von Anne Golon gewidmet, indem er Textausschnitte auf Karteikarten im Format DIN A6 versammelte; 122 Karten mit der Außenform des Fernsehbildes und schwarzen (Zensur-)Balken hat er 2002/2003 zu einem Arrangement versammelt, vor dem er sich auch selbst im strengen Profil fotografiert hat. Damit verweist er auch diese Arbeit in den Kontext der künstlerischen und biografischen Selbstbefragung, der ihn das ganze erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hindurch beschäftigt hat und noch weiter beschäftigen wird.
Formal im direkten Anschluss an die Polaroid-Arbeiten anschließend, beginnt Dietmar Binger um 2002 mit dem Werksatz "Pheromon-Attack" (Werkgruppe "Idole"), für den er eher alltägliche Szenen fotografiert hat: Das Idol ist jeweils eine Frauenfigur, deren sexuelle Präsenz als Stereotyp einer männlichen Begierde dargestellt und somit zum erotischen Anlass künstlerischer Produktion gemacht wird. Diese Fotografien werden digital stark vergrößert, sodass auch ihre Pixelstruktur deutlich sichtbar bleibt, und anschließend mittels eines Quadratrasters wieder in Einzelbilder aufgelöst. Aus diesen Einzelbildern - meist sind es über 100 - setzt Dietmar Binger wieder ein Puzzle zusammen, ganz wörtlich: Jedes quadratische Bildstück wird einzeln geprinted und mittels Lineal mit den anderen zu einem großen Ganzen gefügt. Auch das Gesamtbild ist kein unbedingt stabiles Gebilde: Der Künstler entscheidet selbst, ob er das Puzzle bis zur Ausfüllung des vollen Rechtecks eines Ursprungsbildes ausführt, oder ob er einige Teile wieder entfernt, sodass nicht nur eine komplexe Außenform des Bildfeldes entsteht, sondern sich auch die Verhältnisse im Inneren des Bildes stark verändern. Durch die Wegnahme von Bildstücken werden perspektivische Verbindungen aufgehoben und wieder neu zusammengesetzt, meist wirkt das Bild auch wesentlich flächiger als vorher, da es bei der Betrachtung nicht mehr als unbedingt zentralperspektivisch anzusehen ist. Und, um zu den "Idol"-Frauenfiguren zurückzukehren: Sie werden in der rasterartigen Zerlegung zu klassischen Torsi, die mehr über Träume als über Realien erzählen, darin den entsprechenden Arbeiten von Thomas Ruff nicht unähnlich. Das letzte der Idole, eine "Selena" - griechisch für die Frau vom Mond, was der Traumsituation nahe kommt - steht schließlich im Schneegestöber und ist nur noch an der Körperhaltung als bildgewordene Verführung erkennbar; im Puzzle der kleinen Quadrate wirken die Schneeflocken als konkrete Überlagerung des triebhaften Ursprungs aller Kunst und markieren so in aller Melancholie die Frage nach dem Sinn des eigenen Tuns jenseits des animalischen Wunsches nach eigener Vermehrung.
Noch stringenter erscheint das Vorgehen im Werksatz "Erinnerte Jetzt-Zeit", den Dietmar Binger seit etwa 2003 vorantreibt. Hier werden eigene Kinderbilder, Aufnahmen aus der Tanzstunde, Ferienfotos und frühe Selbstportraits be- und verarbeitet. Für den Künstler sind dies die Belege des eigenen, gelebten Lebens, der Identitätssuche, -stiftung und -findung, doch in diesen Bildern wirkt die Rasterung noch einmal ganz anders. Sie distanziert den Künstler im Machen und die Betrachtung im Sehen vom Bild selbst und damit von aller inhaltlichen Bedeutung, selbst wenn Dietmar Binger noch den Aufnahmeort mit angibt und damit in der Betrachtung eine Rekonstruktion von Kindheit und Jugend zulässt. Das Verfahren bleibt, die Varianten werden vielfältig: Ein Bild wird einem Quadratraster unterworfen, die einzelnen Teilstücke werden herausvergrößert - allerdings fallen bei den Schwarzweißbildern aus Bingers Jugend die Verpixelungen nicht so stark auf wie bei den farbigen "Idolen" - und schließlich wieder auf weißem Grund montiert. Doch hier sind Unterschiede zu bemerken: Manche Bilder bestehen nur aus neun oder fünfzehn Quadraten und sind entsprechend klein, andere sind nahezu genauso groß wie die "Idole". Dietmar Binger arrangiert diese Bilder immer wieder in Gruppen an der Atelierwand, lebt mit ihnen und ordnet sie immer wieder neu. Gut sichtbar wird in diesem Prozess, dass die Bilder gegenüber ihrem Anlass und gegenüber ihrer Wiederentdeckung immer abstrakter werden, geradezu hinter dem Raster verschwinden. Damit gelingt Dietmar Binger mit konkreten Mitteln eine fundamentale Aussage zum Themenkomplex der Integration von Kunst und Leben.
Die Werksätze "Pheromon-Attack (Werkgruppe "Idole") und "Erinnerte Jetzt-Zeit" sind noch nicht abgeschlossen, haben aber sicher den Zenit ihrer Produktivität überschritten. Derzeit arbeitet Dietmar Binger an einer weiteren Erhöhung der Komplexität in seinen Bildfindungen. Unter dem derzeit eher selbstironisch anmutenden Titel beginnt der Werksatz "Pheromon Attack" (Werkgruppe "Frivole Idole") das Spielen mit Idolen auf neue Weise, quasi in einer Abstraktion der Abstraktion: Das zuvor als Teiler aufgefasste Quadratraster verselbständigt sich gegenüber seiner Basis im weißen Bildgrund und wird in einer erneuten Reproduktion noch einmal unterteilt. Die Raster überlagern sich und bieten eine mehrfache Codierung des darunter liegenden Bildes an: So unappetitlich die pornografisch wirkende Aufnahme einer "Gurkenesserin" ist, so sehr mag sie die erotische Fantasie anregen und damit als wirksames Motiv die Integration von Kunst und Leben an der Schnittstelle zur Intimität darstellen. Doch indem dieses Motiv einem mehrfachen Raster unterworfen wird, das nicht mehr allein mit dem fröhlichen Spiel des Puzzles zu identifizieren ist, manifestieren sich die konkreten Linien eines Weltentwurfs der Gestaltung, eben Form über Form über Form - und unendlich so weiter, bis vom Untergrund nichts mehr zu sehen ist. Der Weg von der Entropie zur Ektropie, wie er im zweiten thermodynamischen Gesetz als einer der vielen Weltformeln beschrieben ist, hat in der bildenden Kunst oft, vielleicht sogar allzu oft zur farblichen Monochromie, gerade auch im Weiß, geführt. Davor wird Dietmar Binger immer wieder durch seinen handfesten Realitätsbezug bewahrt; also kann man weiterhin gespannt sein, wie er seine Fäden aus Selbstreflexion, Bilderlust und konstruktivem Umgang mit allen Materialien der bildenden Kunst weiterspinnt. Ganz gleich wie er die weiteren Spiele anlegt: Man kann sich sicher sein, dass er es mit großer Systematik tun wird.
Rolf Sachsse
Redaktion: Claudia Maas
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