"RunD" nannte Tanja Holzer-Scheer ihre Diplomarbeit aus dem Jahr 2004, mit der sie ihre künstlerischen Arbeiten zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorstellte. Die Wölbungen des weiblichen Körpers regten sie zum Zeichnen, Collagieren und plastischen Gestalten runder und geschwungener Formen an. Dabei lassen die Kohlezeichnungen den Bezug zur Quelle der Inspiration am eindeutigsten erkennen. Nur mit wenigen markanten Konturlinien wird in ihnen der weibliche Akt inszeniert. Die kalligrafisch anmutenden Bögen zeigen den gleichen schwellenden Duktus wie die ausdrucksstarke Handschrift der Künstlerin. Sie transformieren das Zeichenhafte der Schrift ins Bildhafte und Allgemeine. In den Collagen ist das Motiv des Aktes farbig und formal stärker in den Kontext des Bildes eingebunden. Alle Details erscheinen üppig und gerundet. Das Schneiden und Reißen von zuvor mit Pinseln, Schwämmen und Bürsten in mehreren Schichten bemaltem Papier bringt füllige und zudem farbintensive Formen hervor, die sich mehrfach überlagern. Stellenweise lassen sie sich als Gliedmaßen und Genitalien des weiblichen Körpers lesen. In Verbindung mit den kräftigen, zum Teil grellen Farben veranschaulichen sie Vitalität und Lebenswillen. Andere Formen bleiben indifferenter, erinnern an Flügel und Fühler von Insekten oder an Blätter und Samenflügel von Pflanzen. Auch dreidimensionale Objekte gehören in den Zusammenhang der Diplomarbeit. Angeregt durch die Installationen ihres Lehrers an der HBKsaar Bodo Baumgarten hatte Holzer-Scheer neben dem experimentellen Umgang mit Werkstoffen und Bildformaten Filz als Arbeitsmaterial für ihre sackartigen, prall gefüllten und bemalten Filzfiguren entdeckt. Deren bucklige Oberfläche erinnert an Landschaftsformationen, die bauchige Fülle hingegen weckt Assoziationen an schwerfällige Leiber des Tierreichs bis hin zur menschlichen Spezies.
In Collagen von 2003 sind bereits Merkmale angelegt, die sich in der Folgezeit wie ein roter Faden durch das Werk Tanja Holzer-Scheers ziehen: markante, oft übergroße Augen. Als annähernd runde, meist ovale, manchmal verschieden große Löcher in das Papier geschnitten oder in der oberen Malschicht ausgespart legen sie als Negativformen die Farbe des Untergrundes frei. Seltener sind sie als Applikation auf der Bildoberfläche aufgelegt. Auch in den plastischen Objekten kommt dem Auge als dem Sinnesorgan, mit dem sich Lebewesen die Welt optisch erschließen, maßgebliche Bedeutung zu. Die Nähe der Darstellungen Holzer-Scheers zum anfänglichen Stadium der embryonalen Entwicklung des Menschen ist unverkennbar. Als auffallende dunkle Ovale liegen die Sehorgane in der frühen pränatalen Lebensphase vertieft in einem übergroßen Schädel. In den Papierarbeiten lässt außerdem das sanfte Gleiten der kopfdominanten Figuren an Schwimmbewegungen von Embryos im Fruchtwasser denken. Andererseits haftet vielen Gestalten mit Riesenaugen und dünnen, den umgebenden Raum ertastenden Extremitäten etwas Insektenhaftes an, was mit dem Schwebezustand inhaltlich korreliert.
Auf Mehrdeutigkeit zielt die Künstlerin ab, und es ist genau dieses Ambivalente, Fabelhafte, ja auch Bizarre und etwas Schrille, was den Reiz ihrer meist kleinformatigen Arbeiten ausmacht und zur kreativen Auseinandersetzung animiert. Eine 2005 entstandene und unter dem Titel "Ausschnitt und Wirklichkeit" präsentierte Wandinstallation aus zahlreichen, nur 6 x 6 cm großen Einzelbildern in Gelb und Grün zeigt einfache, aus dem Oberflächenpapier geschnittene Motive, die scheinbar schwerelos und nicht selten arabeskenhaft unterschiedliche Interpretationen in Gang setzen. Es mag an der sattgrünen Farbe liegen, dass sich nun zu der Vorstellung menschlicher Gestalten verstärkt gedankliche Bezüge zur Flora einstellen. Schon die gefächerten Formen der früheren Collagen lassen sowohl an stilisierte Hände als auch an die ausladenden Blätter bestimmter Philodendren denken. Doch tritt in den rhythmisch geschwungenen Silhouetten der grünen Bildfiguren das Pflanzenhafte noch deutlicher in den Vordergrund.
"Wesen" heißt eine 6-teilige Serie aus dem Jahr 2006, in der dem Betrachter rätselhafte, Insekten ähnelnde Lebewesen offen entgegenblicken. Oder handelt es sich eventuell nur um ein einziges in unterschiedlichen Positionen? Die Figur passt jeweils genau ins Bildfeld, wohlig scheint sie sich dort einzurichten. Die Blätter sind mit geringem Abstand vor der Wand angebracht, so dass die intensiv leuchtende rosa Farbe nach hinten abstrahlen kann. Die auf starken Kontrasten basierende Bildfolge erhält dadurch eine übernatürliche, beinahe mystische Dimension. In einigen Bildern der Jahre 2008/09 lassen sich eindeutig menschliche Gesichter identifizieren, selbst wenn die Profilansicht abstrahiert und schematisiert wurde. So besteht beispielsweise kein Zweifel an der passgenauen Zusammengehörigkeit von leicht geöffnetem Säuglingsmund und Mutterbrust in einem Gemälde von 2009, wobei die glühende, farbig pulsierende Nahrungs- und Lebensquelle wie ein weiches, schützendes Dach dem bedürftigen Kind von oben entgegenkommt. Eine ebenfalls 6-teilige Bilderreihe von 2008/09 widmet sich ganz der erwachsenen Frau. Unmissverständlich treten die weiblichen Gesichtszüge und wiedererkennbare Accessoires wie Frisur und Kleid hervor. Ihre Formgebung ist allerdings merkwürdig spitz. Das typisch weibliche Runde konzentriert sich auf kleine knallrote Scheiben, die wie ein Muster aus Seifenblasen die schwebende Figur im Zentrum hinterfangen. Sie betonen den Aspekt des Leidenschaftlichen, im Komplementärkontrast zum Grün auch den einer unversehrten Ganzheit mit in sich widerstrebenden Energien.
In den plastischen Objekten, denen sich Tanja Holzer-Scheer ab 2009 fast ausschließlich zuwendet, wird das Lebendige im Allgemeinen mit all seine Entwicklungsphasen, Metamorphosen und Missbildungen zum beherrschenden Thema. Ob als erstaunlich filigrane Gebilde mit kleinteilig strukturierter Oberfläche oder als füllige und plumpe Beutel mit Auswüchsen in der Art von Extremitäten, Fühlern, Penissen oder Zitzen – die Figuren erinnern an verschiedene Existenzformen zugleich, seien es Lebewesen aus dem Tier- und Pflanzenreich oder explantierte innere Organe und amputierte Genitalien. Die als unabhängige Objekte geschaffenen Plastiken kombiniert die Künstlerin zu umfangreichen Installationen. So zeigte sie in den Ausstellungen "Wechselbalg" (2011, 2013), "einblicke" (2012) oder "Herbstsalon 2014" im KuBa, Saarbrücken jeweils andere Zusammenstellungen und Präsentationsformen. Mal bevorzugt sie an unsichtbaren Nylonfäden frei im Raum schwebende Körper, mal legt sie den Schwerpunkt auf dicht an der Wand fixierte, eher flache Gebilde. Die farbenfrohen Objekte scheinen von einem statischen Auftrieb getragen bzw. mittels Saugnäpfen oder -tentakeln an die glatte Fläche des Untergrundes gepresst. Sie erhalten eine die gewohnte Erfahrung von Schwerkraft sabotierende Leichtigkeit und mit ihr eine eigenartige, fast surrealistische Anmutung.
Befremdlich, verstörend gar wirken die zahlreichen Augen, die aus allen Ecken und Winkeln in den Raum starren. Hielt man ein kompaktes Ding zunächst vielleicht für eine exotische Frucht oder ein extrahiertes Körperorgan, sieht man sich nach einer leichten Drehbewegung dem unerbittlichen Blick eines nicht eindeutig definierbaren Lebewesens ausgesetzt. Massiges Fleisch mutiert zu Hammerhai, Quastenflosser oder Krake, doch kann man sich da keineswegs sicher sein. Das Kunstobjekt ist nicht bloß Gegenstand der Betrachtung, sondern wird scheinbar selbst zum aktiven Beobachter. Holzer-Scheer schafft eine Atmosphäre, in der sich Staunen und Grausen permanent ablösen. Die meisten Figuren kommunizieren über den Blick mit ihrer Umgebung; bei anderen erfolgt die sensorische Wahrnehmung über Fühler und Tentakel. Auch weitere Sinne, das Riechen, Tasten und Schmecken etwa, werden thematisiert. Bunte Borsten von groben Besen und Bürsten, Stecknadeln mit farbigen Köpfen, Kunstköder, Nylonschnüre, Garne, Folien, Kunststoffnetze, Gummischläuche, Reinigunsschwämme, Wischmopps, Plastikperlen und Glasaugen liefern das nötige Material. Allesamt stammen diese Komponenten von Gegenständen und Verpackungen des alltäglichen Gebrauchs sowie aus dem Bau- und Anglerbedarf. Als Rezeptoren umfunktioniert ergänzt die Künstlerin damit ihre genähten und mit kräftigen, teilweise fluoreszierenden Farben und faserigen Stoffen und Fäden versehenen ausgestopften Hüllen. Es entsteht eine Welt wandelbarer Kreaturen, die mit leuchtenden Farben und eigenwilligen Formen lockt und mit unerwarteten, erschreckenden Mutationen zugleich abstößt. Aus dem Widerspruch zwischen Naturverbundenheit und Künstlichkeit der Materialien erhalten die Werke ihre Spannkraft.
Die Installation aus dem Jahr 2014/15, wie die vorangegangenen ein "work in progress", wechselt unter Beibehaltung des raumfüllenden Gesamtformates ins Kleinteilige und Chaotische. Mit feinen Silberdrähten sind die nur wenige Zentimeter großen Fundstücke und Reste aus Arbeitsprozessen wie Spielzeugteile, farbiges Papier, Folien, Netze und Schnüre aus Kunststoff, Perlen und Wollfäden zu einem engmaschigen, kunterbunten Teppich verknüpft. Auch hier schweben die Einzelelemente frei vor dem Untergrund, doch vermitteln sie insgesamt den Eindruck eines großen Gewimmels. Auch hier lässt das Werk den Betrachter mit gemischten Gefühlen zurück: Das Grelle und Heitere kippt um in beängstigende Bilder einer explodierenden Zerstörung.
Petra Wilhelmy
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