Dem Spieltrieb folgen – Helmut Reichmann, Kunstprofessor, Plastiker, Segelflieger, Erfinder Helmut Reichmanns Lebensweg schien geradezu zwangsläufig in eine Professur für Experimentelle Plastik an der 1989 gegründeten Hochschule der Bildenden Künste Saar zu münden. Denn die Vielfalt seiner Tätigkeiten überschritt unaufgeregt und selbstverständlich die Disziplinen. Helmut Reichmann interessierten die Schnittstellen von Kunst und Technik, Sport und Wissenschaft. Hieraus zog er das, was er brauchte, um seinen Platz, die ihm maßgeschneiderte Position auszugestalten. Sie lag notwendig zwischen den Disziplinen und erfüllte damit den Anspruch, den sich die Kunsthochschule gegeben hatte: "Deutliche Zeichen können von der neuen Hochschule der Bildenden Künste Saar schließlich auch gesetzt werden, weil ihre Konzeption die enge Verknüpfung und gegenseitige Durchdringung von angewandter und freier Kunst vorsieht.(…) Auf diese Weise könnte letztlich auch verstärkt Einfluss genommen werden auf die Gestaltung der allgemeinen Lebensverhältnisse und die vielfältigen und komplexen praktisch-technischen sowie die ästhetischen Bedürfnisse unserer Gesellschaft." Die Worte des damaligen Staatssekretärs im saarländischen Kultusministerium, Dr. Kurt Bohr, beschrieben zugleich den Ansatz, den Helmut Reichmann verkörperte. Damit stand er weitgehend allein. Denn erst jetzt, fast 20 Jahre nach Gründung der Kunsthochschule, tritt eine Generation von Künstlerinnen und Künstlern an, die aufgrund ihrer eigenen künstlerischen Erfahrung, vor allem aber aufgrund ihrer künstlerischen Ausbildung in der Lage ist, diesen Anspruch vollgültig umzusetzen. Bei der ersten Generation der Lehrenden an der Saar-Kunsthochschule war es noch notwendig anders gewesen. Sie selbst hatten noch ihr Kunststudium weitgehend in den Grenzen eines festgefügten Kanons absolviert und sich als Pioniere neues Gebiet erschlossen. Helmut Reichmann war seinen Kollegen um diesen entscheidenden Schritt voraus. Diese Bedingungen galten für ihn von Anfang an. Er nahm sich aus den ihm, dem ausgebildeten Kunst- und Biologielehrer, Sportdozent und zu den Besten gehörenden Segelflieger, zur Verfügung stehenden Möglichkeiten das, was er brauchte. Die Vielfalt seiner Interessen und die Vielgestaltigkeit seiner Arbeitsgebiete führte zu dem Punkt, an dem diese Stränge zusammenlaufen und sich zu einem Lehrkonzept fügen.
Entdecken und Experimentieren gehörten zusammen. Im Anfang stand dabei die Auseinandersetzung mit einer Maltechnik, die er bei Ernst Fuchs in seinem Studienjahr in Wien im Wintersemester 1965/66 kennenlernte. Fuchs hatte ihn in die Technik des Lasierens eingeführt. Das "Höhen" mit Weiß auf einem dunklen Untergrund verlangte viel handwerkliches Geschick, doch Helmut Reichmann suchte nach einer Möglichkeit, diesen Prozess nicht mehr mit der Hand, sondern auf eine andere, mechanische Art zu vollziehen. Die damals aktuelle Op-Art mit ihren bewegten, kinetischen Objekten kam ihm dabei zupass. Er entwickelte eine Maschine, um damit die durch das Höhen erzielte Wölbung im Bildraum herzustellen. 1966 entstand das sogenannte "Gummibild". Dafür hatte er einen Keilrahmen mit einer Gummifolie überzogen. Darunter hatte er Kolben montiert. In Gang gesetzt, bohrten sie sich gegen die Gummiwand und erhöhten auf diese Weise die Bildfläche. Weitere kinetische Objekte, "Keulen" oder "Schabbler" genannt, folgten. Helmut Reichmann war in seinem Element und experimentierte mit Spiralen, denen er Punkte aufsteckte und in Bewegung versetzte. Ein Quadrat auf Tropfen konstruierte er so, dass die Flüssigkeit sich hielt und nur an einem Punkt an einer Ecke heraustropfte.
Ein paar Jahre später nutzte er sein Wissen über die Thermik für ein mit Gas gefülltes Luftobjekt, das er 1971 in den Straßen von Esslingen aufsteigen und sich als schwebendes Objekt vom Wind bewegen ließ. In dieser Zeit entwickelte er ein weiteres luftgefülltes Kissen, dessen Volumen auf Wärme und Kälte reagierte. Unter Sonneneinstrahlung stieg es auf, fiel die Temperatur, sank es wieder auf den Boden zurück. Parallel dazu beschäftigte sich Helmut Reichmann mit der Zeichnung, wobei hier der Schwerpunkt auf dem Erzählerischen, bisweilen Kuriosen, der Übertreibung der Form lag. Die sich wölbende Form, die Verbindung von Mechanischem und Organischem blieb auch in seiner von der von der Pop-Art beeinflussten Malerei dieser Jahre ein Thema. Zeichnen und das Experimentieren mit den Elementen bei seinen Plastiken bestimmten seine künstlerische Arbeit. Die Basis für seinen Unterricht als Professor für Experimentelle Plastik an der neugegründeten Hochschule der Bildenden Künste Saar war geschaffen und er baute sie in den folgenden Jahren, gestützt und befördert durch die Vielfalt seiner Interessen, konsequent aus; zwangsläufig schien sie in die Lehre zu münden.
Helmut Reichmann hat sich über sein Verständnis der Lehre programmatisch in der ersten Publikation in der Schriftenreihe der Hochschule der Bildenden Künste Saar aus Anlass deren Gründung geäußert und damit sein Unterrichtsfach "Experimentelle Plastik" umrissen. Ein offener Ansatz und ein breites Interessenspektrum gelten ihm dafür als notwendige Voraussetzungen: "Offenheit, Neugier, persönliche Aktivität und vielfältige Interessen scheinen in einer Zeit, die offenbar zum Spezialistentum tendiert, besonders wesentlich – wenn verhindert werden soll, dass vorprogrammierter Verhaltens- und Konsumstumpfsinn das Schöpferische und Kreative im Menschen erstickt."
Mit seiner Professur an der neu gegründeten Schule verband er die Hoffnung, hiermit einen Beitrag für die Ausbildung von Künstlern und Designern zu leisten. Dass ihn gerade dafür seine, wie man heute sagte aus der Fliegerei und seinen Erfindungen erworbenen "Schlüsselqualifikationen" empfahlen, brachte ihm einen Vorteil gegenüber seinen Kolleginnen und Kollegen. Wie kein zweiter verkörperte er den Typus des "spezialisierten Generalisten", den Lucius Burckhardt im Auge hatte, als er die Arbeitsaufgaben für die neue Kunstschule benannte. Ein Gestalter diesen Typs wisse, fuhr Burckhardt seinerzeit fort, dass die Probleme unserer Zeit nicht allein auf der technischen Ebene zu lösen sind. Diese Ebene beherrschte Reichmann zweifelsfrei, worauf die Entwicklung verschiedener Fahrradmodelle verwies, die ihn seit Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts beschäftigte. Das "Janus-Tandem" ist wohl die bekannteste der Reichmann-Erfindungen, die ihn 1990, nun als Kunstprofessor zum Avantgarde-Kunst-Festival "Steirischer Herbst" nach Graz führte. Ein Fahrrad für Rollstuhlfahrer, ein die Muskeln Querschnittsgelähmter stimulierendes Dreirad, ein "Ergo-Rad", ein Liegerad und ein Kinderrad, das mit dem Kind wächst und damit Nachhaltigkeit sichert, hat er konstruiert. Im Wettbewerb um den Designpreis Neunkirchen des Jahres 2008 zeichnete man ein mit der kindlichen Anatomie wachsendes Laufrad mit einem 1. Preis aus. Reichmanns Entwurf mag eine solche Lösung vorweggenommen haben und damit zeigen, wie breit seine Interessen waren. Der "spezialisierte Generalist" nutzte dafür seine Kenntnisse der Mechanik und Fahrzeugtechnik. Hier war eher der Bastler und Tüftler als der Produktdesigner am Werk, um dem "spezialisierten Generalisten" Gestalt zu geben. Man mag ihn auch einen "Quer- oder Seiteneinsteiger" in die Kunstlehre nennen, der dabei nicht weniger seine Qualität als Erfinder und Tüftler erwies. Denn er hatte selbst die Voraussetzungen geschaffen, aus denen sich 1989 seine Professur für Experimentelles Gestalten herausbildete.
Nach Schließung der Pädagogischen Hochschule des Saarlandes wurden 1979 die Akademischen Oberräte Helmut Reichmann und Jo Enzweiler in den Fachbereich Design der Fachhochschule des Saarlandes übergeleitet. Beide kamen in den Rang eines Professors. Jedoch fehlte noch der entsprechende Arbeitsbereich für beide. Helmut Reichmann war zugleich weiterhin als Dozent in den Studienrichtungen Kunsterziehung und Sportwissenschaft tätig. Für den Fachbereich Design entwickelten beide die Fachrichtung "Grundlagen des Gestaltens". Mit diesem Angebot ging es weit mehr als nur darum, die eigene Existenz im Fachbereich zu begründen. Dahinter stand vielmehr der Plan, ein Lehrangebot zu etablieren, das einer möglichen Erweiterung des Fachbereichs Vorschub leistete. Nachdem die künstlerischen Fächer seit den frühen sechziger Jahren nach und nach aus dem Curriculum der vormaligen Werkkunstschule gestrichen worden waren, lag seit 1971 mit der Eingliederung der Schule in den Fachbereich Design der Schwerpunkt auf Grafik-, Industrie-, Textildesign sowie Innenarchitektur. Zehn Jahre nach dieser Wandlung und acht Jahre vor der Gründung der Hochschule der Bildenden Künste Saar legten Enzweiler und Reichmann das Fundament für künstlerische Fachrichtungen. Ihr Angebot sah notwendig keinen Studienabschluss vor, sondern setzte schon, wie später an der Kunsthochschule gewollt, als eine alle Bereiche durchdringende Lehre auf Durchlässigkeit zwischen den Fachrichtungen. Demgemäß vereinigten die Grundlagen des Gestaltens Theoriefächer wie Kunst- und Kulturgeschichte, Marketing, Ergonomie mit praktischen Angeboten wie Zeichnen, Fotografie, Visuelle und Auditive Wahrnehmung sowie die Kenntnis von Drucktechniken, des plastischen Gestaltens, vom Umgang mit Farbe. Während Jo Enzweiler die Lehre der grafischen Gestaltung übernahm, betreute Helmut Reichmann das Experimentelle Gestalten. Er unterrichtet Zeichnen und Plastisches Gestalten am Fachbereich, währenddessen die Institutionalisierung seines Arbeitsbereichs weiterhin ausstand. Die Mitte der achtziger Jahre angestrengten Planungen einer tatsächlichen Erweiterung des Fachbereichs zu einer, wie es damals noch hieß, "Hochschule für Gestaltung", in der auch die Freie Kunst ihren Platz haben sollte, verzögerten diesen Schritt abermals. Doch der Heißluftballon mit der Aufschrift "Kunst und Design", den der von Reichmann gehaltene Fachkurs Plastisches Gestalten aus Anlass der Ausstellung "40 Jahre Gestalten" am 22. August 1986 bei der Premiere der "Hochschulgalerie" steigen ließ, war ein Vorzeichen für das, was kommen sollte.
Als 1989 die Hochschule der Bildenden Künste Saar ihren Lehrbetrieb aufnahm, erhielt Helmut Reichmann eine Professur für Experimentelle Plastik. Sein Arbeitsbereich war benannt, doch die Grenzen waren notwendig weit. Das Experiment spielte dabei eine entscheidende Rolle in seiner Lehre. Das war der Grundsatz, alles andere blieb für ihn notwendig offen: "Der Bereich der Experimentellen Plastik", erklärte er in der Publikation Nr. 1 der "Schriftenreihe der Hochschule der Bildenden Künste Saar", eignet sich in besonderer Weise, Studenten dabei zu helfen, die in ihnen liegenden Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln, sowie ihre persönlichen künstlerischen Interessengebiete, Ausdrucksformen und Lösungsmöglichkeiten zu finden. Der Schwerpunkt liegt auf der Öffnung zum Unbekannten, dem Experiment – vielleicht auch dem misslungenen – und der Vielfalt innerhalb des persönlichen Spektrums."
Die Mittel, mit denen er die Studierenden zum Entdecken anstiftete, waren freilich die ihm angestammten: Luft, Bewegung im Raum, das Austüfteln irrwitziger Mechaniken und das perspektivische Zeichnen. Mit den von ihm zur Eröffnung der Hochschule ausgestellten Luftkissenobjekten gab er einen Vorgeschmack, was zu erwarten stand. Bald folgten im Mai 1990 seine Studierenden. Einer stellte eine von Wasserkraft bewegte "Nonsens-Maschine" im Saarbrücker Bürgerpark vor. Im Juli desselben Jahres präsentierten unter dem Titel "Objekte in der Natur" Studierende seines Ateliers in den Daarler Wiesen in Saarbrücken St. Arnual Performances und Objekte zum Thema Wasser und Luft. Bei allem Willen zum fröhlichen Scheitern im Experiment waren es immer auch ökologische Fragen, die dabei interessierten. Der Spieltrieb war nie reiner Selbstzweck, sondern stieß immer auch an Fragen, was die Dinge bewegt, wie die Kräfte der Natur zusammenwirken und was sie verhindert oder befördert. Diese Balance zwischen fröhlicher Wissenschaft und Ingenieur-Kunst im Zeichen des "spezialisierten Generalisten" zeichnete seinen Unterricht aus. Der Begriff "Nonsens" schien diese mit Mitteln der Komik und Entlarvung daherkommende Systemkritik wie Materialrecherche ideal zu fassen. Das Wintersemester 1991/92 setzte mit der Semesterarbeit zu "Natur-Porträt-Unsinn" ein Zeichen. Der gleichnamige Aktionstag im Atelier Reichmanns im Februar 1992, einen Monat vor Reichmanns tödlichem Unfall, zeigte, worauf es seiner Lehre ankam: Irrwitzige, bisweilen komische Präsentationen von Arbeiten, die einem ungezügelten Spieltrieb folgten. Darunter waren zwei Studierende, die in Hasenkostümen den Saarbrücker Weihnachtsmarkt, ein Einkaufszentrum, die aus Saarbrücken übertragene TV-Show "Wetten, dass…", den Neujahrsempfang des Ministerpräsidenten und die Verleihung des Max-Ophüls-Preises durch ihre bloße Anwesenheit verwirrten und damit die Rituale medialer Inszenierungen subversiv hervorhoben.
Kurz vor seiner Abreise nach Südfrankreich, von der er nicht mehr zurückkehrte, sprach er noch mit der "Saarbrücker Zeitung" über seine Arbeit als Lehrer an der Kunsthochschule und wie wichtig ihm dabei der Prozess ist, in dem seine Studierenden zur eigenen Individualität finden. Die Mittel waren weitgehend frei, der Prozess notwendig offen. Kunst im engen Sinn des Begriffs spielte dabei keine entscheidende Rolle. Hier sprach auch der Segelflieger, Erfinder, Sportdozent, Plastiker mit Luft und Folien und der Zeichner in eigener Sache, wie es scheint. Es geht darum, etwas zu schaffen, auszuprobieren, zu entwickeln und dabei sich selbst zu erkennen: Was man weiß, was man nicht weiß, was man will und woran man scheitert. Die darin liegende Freiheit zu erkennen und die Gewissheit zu gewinnen, etwas schaffen zu können, aus sich selbst, mit anderen, seien es Menschen, der Natur oder Materialien jedweder Art. Daran war es Helmut Reichmann gelegen. Damit hebt sich die Kulisse dieser von Spieltrieb und Entdeckerfreude getriebenen Vielfalt und Vielgestalt eines Wirkens, das auf den ersten Blick nichts Künstlerisches im strengen Sinn hat. Und doch von dem bestimmt ist, was die Welt voranbringt, das Leben reich macht und alles zusammenhält: der Kreativität.
Sabine Graf
Redaktion: Claudia Maas
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