Sigrún Ólafsdóttir – die Plastiken
Bei den vorbereitenden Arbeiten zu diesem Beitrag stieß ich auf die Videokopie einer Fernsehsendung, in der Sigrún Ólafsdóttir interviewt worden ist. Im Hintergrund sah man das gerade fertiggestellte "Füllhorn", und sie sagte über sich, dass sie als Kind schon gerne gebastelt, und nie damit aufgehört habe.
Diese Aussage hatte mich damals sehr berührt. Sie blieb in meinem Gedächtnis präsent, und ich hatte immer das Gefühl, dass in diesem Satz wohl der Schlüssel (oder einer der Schlüssel) zu den Arbeiten Sigrún Ólafsdóttirs zu finden ist. Der nachfolgende Beitrag handelt von meiner Suche nach diesem Schlüssel.
In vielen persönlichen Gesprächen, die ich bisher mit der Künstlerin führte, diskutierten wir nicht nur über ihre Kunst, sondern auch über das reale Leben und deren wechselseitigen Beeinflussung. Diese Wechselwirkung hat für Sigrún Ólafsdóttirs Arbeit eine große Bedeutung.
Ihr Thema ist das Verhältnis zweier sich gegenseitig bestimmender Kräfte. Gegensätze, und zwar im weitesten Sinne: schwarz und weiß, männlich und weiblich, hart und weich, nass und trocken, hässlich und schön, Krieg und Frieden, Weite und Nähe – oder eben "Force and Tenderness" – die sich gegenseitig bedingen.
Der Moment des Gleichgewichtes zwischen diesen Gegensätzen ist die Quintessenz der Arbeit von Sigrún Ólafsdóttir. Hierbei handelt es sich nicht um ein statisches, sondern um das Gleichgewicht in der Bewegung: um den kurzen Moment, wenn beide Gegensätze gleich stark (oder schwach) ausgeprägt sind – die Pause zwischen Ein- und Ausatmen, zwischen Ebbe und Flut, zwischen Flieh- und Anziehungskraft (wenn der hochgeworfene Ball einen Augenblick lang in der Luft "hängt").
In der plastischen Arbeit von Sigrún Ólafsdóttir lassen sich drei unterschiedliche Werkgruppen herauskristallisieren: die "Stapelungen" der halben Kugeln bilden die Serie der Körbe; des Weiteren die Skulpturen, die die Künstlerin als "Berührungen" bezeichnet, gehören zu der Gruppe der linearen Plastiken; und schließlich die Windungen: schwebende, in den Raum emporsteigende oder seitwärts greifende Bänder, die sich der Schwerkraft zu entziehen scheinen.
Viele Arbeiten, die in öffentlichen Gebäuden zu sehen sind, gehören zu dieser letzten Gruppe, wie auch die raumbezogene Arbeit, die für die aktuelle Ausstellung in der Stadtgalerie konzipiert worden ist. Allen Plastiken ist der Eindruck einer gewissen Leichtigkeit gemeinsam, der nicht nur durch den ausgeklügelten Gleichgewichtsmoment entsteht, sondern auch dadurch, dass der "leere Raum" das eigentliche Objekt durchdringt und so die Plastik mit gestaltet.
Die Stabilität der Körbe wird durch die quer übereinander angeordneten Ringe gewährleistet. Diese Stabilität, oder das Gleichgewicht, wird durch eine Bleikalotte verstärkt, und durch diese sichtbar gemacht. Die einzelnen Speichen der Körbe zeichnen die Umrisse der Form im Raum – als wäre die Füllung verschwunden und nur das Skelett stehen geblieben. Die "immaterielle" Leere wird nur durch unsere Wahrnehmung zur Form. Wie "labil" eine solche Form ist, zeigt sich, wenn der Betrachter die Plastiken von verschiedenen Seiten anschaut: die visuelle Information verschiebt sich dann auf verwirrende Weise, wir können die Struktur, den Zusammenhang der Plastik, durch das in unseren Augen entstehende Gewirr der sich überkreuzenden Linien kaum verarbeiten.
Manchmal sehen wir eher zwei- als dreidimensional: die Objekte wirken wie Zeichnungen. Und wie auch in den Zeichnungen, gibt es viel Freiraum für figurative Assoziationen. Die von mir benutzte Bezeichnung "Körbe" ist aus einer solchen Assoziation entstanden. Für diese Plastiken sind runde und ovale Formen kennzeichnend. Sie erinnern an Boote, Behälter, ja, sogar entfernt an Helme. Allesamt Gegenstände, die eine schützende Funktion haben. Selten tragen die Arbeiten von Sigrún Ólafsdóttir einen Titel. Diese entstehen nur dann, wenn sie für die Künstlerin offensichtlich sind.
Das "pendelnde" Gleichgewicht zwischen den sich gegenseitig bestimmenden Kräfte ist auch das Thema der linearen Plastiken. Doch hier zeichnen die Holzstreifen nicht die Umrisse der Form, sondern die Körper selbst nach. Der Gleichgewichtsmoment wird hier besonders deutlich: wie bei der Akrobatik wird er durch das Prinzip der gegenseitigen Hebelwirkung bestimmt. Außerdem ist dieser Punkt durch eine Metalleinlage in einem der beiden Holz- oder Aluminiumteilen sichtbar. Die Sensualität, die haptische Verführung, ist bei den Plastiken dieser Werkgruppe überaus stark ausgeprägt. Die Erkenntnis, dass sie, noch deutlicher als bei den Körben, "bewegbar" sind, löst bei den Betrachtern das Bedürfnis aus, diese Bewegung selbst herbei zu führen.
Die Vorarbeiten sämtlicher Plastiken sind sehr aufwändig. Zunächst entstehen Holzmodelle. Hierbei biegt Sigrún Ólafsdóttir mit Hilfe von Schablonen und Wasserdampf spezielle Holzstreifen in die gewünschte Form. Die eigentlichen Plastiken werden entweder in Aluminium "übersetzt", oder in Holz ausgeführt. In letzterem Fall werden die gebogenen Holzstreifen zu dickeren Bahnen zusammengeleimt und zurechtgeschnitten. Auf diese Weise sind auch die dicken, gewölbten Platten, die zusammen das große "Füllhorn" bilden, entstanden.
Bemerkenswert ist, dass diese Arbeit von Sigrún Ólafsdóttir eine Ausnahme ist. Die Künstlerin bezeichnet sie, im Vergleich zu ihrer sonstigen Arbeit, als „männlicher“ – das heißt, dass sie mit dem "Füllhorn" solche Eigenschaften assoziiert, die im Allgemeinen mit dem Begriff "männlich" in Verbindung gebracht werden: massiver, präsenter und kompromissloser. Das "Füllhorn" ist sehr präsent.
Nur bedingt durchdringen sich Raum und Objekt gegenseitig, und das Objekt nimmt viel Platz ein. Dennoch ist auch bei dieser Plastik die Bewegung das Thema. Entfernt erinnert sie an die futuristische Skulptur "Urformen von Bewegung im Raum" von Umberto Buccioni (1913). Dort sind die sonst unsichtbaren Spuren der Bewegung eines im Gehen begriffenen Menschen in Bronze gegossen, wie bei einem Foto mit Langzeitbelichtung, wo der zeitliche Ablauf der Bewegung "verwischt" sichtbar wird. Das Füllhorn wurde, ähnlich wie bei den Körben, auf ein Gerüst aus Ringen aufgebaut, auf die die Platten festgeschraubt worden sind. Am Modell der Plastik sind diese noch vorhanden, aber bei der Fertigstellung der Arbeit konnten die Ringe entfernt werden, weil die dicken Platten die stabilisierende Funktion übernommen haben. Im untersten Bereich enthält auch das Füllhorn noch eine Blei-Einlage.
Die Suche nach dem Ruhepunkt, dem Gleichgewicht, das durch die immer hin- und her pendelnden Bewegung ausgelotet wird, ist in persönlichen Erfahrungen eingebettet, wobei es hier nicht um autobiografische Gegebenheiten geht, sondern eher ein allgemeines Lebensgefühl betrifft. Die Plastiken strahlen deshalb eine gewisse Selbstverständlichkeit aus: sie sind so, sie können gar nicht anders sein! Somit sind sie Ausdruck der konsequenten und mutigen Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen unserer Existenz. Als Fazit gilt: wenn Sigrún Ólafsdóttir "bastelt", bringt sie Kunst hervor. Dies ist ein Schlüssel zu ihrem Werk.
Cornelieke Lagerwaard
Redaktion: Nina Jäger, Sandra Kraemer, Petra Wilhelmy
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