Leben und Werk
Otto Lackenmacher war Maler, Zeichner, Druckgraphiker und Illustrator. Besondere Meisterschaft erlangte der Vielbegabte im graphischen Medium, wie hervorragende Folgen und Einzelblätter in verschiedenen Techniken bezeugen können. In seinen oft farbintensiven Gemälden prägte er einen typischen, dem Figurativen verpflichteten Personalstil mit hohem Wiedererkennungswert. In seinem Oeuvre durchdringen sich Kunst, "Gelebtes Leben" und Zeitgeschichte in komplexer Weise. Neben dieser biographischen Perspektive bietet Lackenmachers Schaffen eine über das Private weit hinausreichende Dimension. Im Sinne eines augenöffnenden "Sieh hin und du weißt" (Hans Jonas), konfrontiert er den Betrachter mit Einblicken in gesellschaftliche Wirklichkeiten und deren soziale Dramen. Damit stellt sich Lackenmacher in die lange Tradition der deutschen engagierten sozialkritischen Kunst ein, ohne dass sein Wirken auf einen "weltanschaulichen Nenner zu bringen" oder politisch zu vereinnahmen wäre. (Lehnert 1980, o. S.)
Aufgewachsen in materiell wie psychisch außerordentlich bedrängenden Verhältnissen wird Lackenmacher bereits als Kind mit Armut und Prostitution konfrontiert. Auch sorgen der frühe Tod des künstlerisch begabten Vaters und mehrfache Unterbringung in Kinderheimen für zusätzliche Traumatisierungen. Der Nachhall dieser frühen Erfahrungen ist bis zuletzt in Lackenmachers Werk zu spüren. Nicht von ungefähr tragen einige Zyklen programmatisch anmutende Titel wie "Paria" oder "Alter Knacker go home", die von Randständigkeit und Ausgegrenztheit handeln. Bleibt die Welt der Außenseiter, Minderprivilegierten und Benachteiligten auch stets Lackenmachers soziales Bezugssystem, vielleicht auch "Heimat", ist das zentrale Sujet seines Schaffens und Sehnens "die Frau". Zu dieser Konstante seines Werkes tritt eine weitere, allerdings viel weniger beachtete: Das Selbstporträt. Während er mit letzterem Selbsterforschung und Selbstpreisgabe betreibt, sind seine Frauendarstellungen - keineswegs nur Frauenakte- Zeugnisse eines höchst ambivalenten Verhältnisses zum weiblichen Geschlecht.
Bereits als Vierzehnjähriger darf der begabte Junge die Kunstschule in Trier besuchen, wo er unter anderem bei Fritz Grewenig Unterricht erhält, doch Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft erzwingen bald eine Unterbrechung seiner künstlerischen Ausbildung, die er erst 1947, nun an der neu gegründeten Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken, wieder aufnehmen wird. Dort unterrichtet in jenen schwierigen Nachkriegsjahren der international renommierte Maler und Graphiker Frans Masereel, Schöpfer zahlreicher Holzschnittfolgen und Bildromane sozialkritischen Gehalts. Lackenmacher wird kurzfristig Masereels Schüler - künstlerisch ein Glücksfall für den jungen Studenten. Unter dem Eindruck von Masereels gegenständlich ausgerichteter engagierter Kunst knüpft Lackenmacher stilistisch wie inhaltlich an den deutschen Vorkriegsrealismus und die von Idealismus gespeisten Werke seines Lehrers an. Doch über das Vorbild Masereels hinaus, ist es Lackenmachers eigenes künstlerisches Temperament als "Menschenbildner", das ihn quer zum damaligen Trend am Gegenständlichen und der Figuration festhalten lässt.
Schon während der Zeit in französischer Kriegsgefangenschaft fertigt Lackenmacher zahlreiche Zeichnungen und Skizzen an, die ihn als exzellenten Zeichner und begabten Porträtisten zeigen. Den Auftakt seines reichen druckgrafischen Werks bildet die Holzschnittfolge "Zeitstudien 1948", die durch staunenswerte künstlerische Reife und inhaltliche Tiefe besticht. Auf 10 Blättern erzählt Lackenmacher in der heute auch unter dem Titel "Ich habe Brot gestohlen" bekannten Mappe vom entbehrungsreichen Los der Kriegsgefangenen, Heimkehrer und der Zivilbevölkerung in der "Stunde Null". Die durchweg bedrückende Stimmungslage innerhalb dieses Zyklus wird durch die Mittel des Holzschnittes dabei nicht nur unterstützt, sondern teils erst hervorgebracht. "Zeitstudien 1948" ist ein einmaliges Dokument des notvollen Lebens in der unmittelbaren Nachkriegszeit. In ihrer speziellen Haltung zur Wirklichkeit stellt diese Mappe ein wichtiges Pendant zur sogenannten Trümmer- und Kahlschlagliteratur mit ihren desillusionierten und entwurzelten Protagonisten dar.
Der Heimkehrerthematik widmet sich Lackenmacher ein wenig versteckt bereits in der großformatigen Zeichnung "Golgotha" (1947), einem der frühesten eigenständigen Bilder, die auf uns gekommen sind. Das Blatt existiert in mehreren Fassungen. Ikonographisch lehnt sich der junge Künstler eng an das Thema der "Kreuzigung im Gedräng" an und füllt die Bildfläche im wahrem Horror vacui mit dicht an dicht stehenden Gestalten, darunter auch Kriegsversehrte. Er wählte einen expressionistisch-übersteigerten Duktus, teilweise überzeichnet er die als wenig sympathisch charakterisierten Figuren auch ins Groteske.
Von Empathie für seine Protagonisten ist auch die Bildergeschichte "Der Gaul" durchdrungen, die 1953 entstand. Vordergründig geht es in neun aufeinander aufbauenden Szenen um das Schicksal eines Karrenpferdes, das "ausgedient" hat, doch ist die Geschichte auch als Gleichnis für Gewalt und Ohnmacht schlechthin zu lesen. Sowohl in der Form der Bildergeschichte, als auch in Anspruch und Aussage dieser Linolschnitte bekundet sich die Nähe zu Frans Masereels humanistisch-sozialkritisch geprägten ‚Bildromanen’.
Wie sehr Lackenmacher Anregungen aus der Realität seines lebensgeschichtlichen Umfeldes schöpft, belegen die Werke, die 1951 während seines Paris-Aufenthaltes entstanden sind. Im Rahmen der französischen Kulturpolitik erhielt er, wie viele Studenten des Saargebietes, ein Stipendium an der Académie de la Grande Chaumière. In Paris entstehen zahlreiche Skizzen und Zeichnungen sowie die Blätter der sog. Paris-Mappe. Auch diese Linolschnitte sind in gewisser Weise "Zeitstudien", doch hat sich in ihnen die Stimmung vollends geändert. Die Düsternis, das Bedrückende und die latent anklagende Haltung der früheren Werke sind verschwunden. Stattdessen fängt Lackenmacher in seinen klaren Linoldrucken die weltzugewandte, mondäne Seite der Metropole Paris mit ihren eleganten und extravaganten Frauen und der urbanen Atmosphäre gekonnt ein. Dominierten in den frühen Bildromanen nächtliche Szenen und die Farbe Schwarz, bricht nun durch ein zugunsten des Weiß verändertes Verhältnis im Druck die Helle des Tages in die Blätter ein. Die Linienführung ist pointiert, sicher und prägnant. In diesen Kontext gehört auch die Linolschnitt-Folge "Routine" von 1953, in der Lackenmacher im Sinne eines Schnitzlerschen Liebes-Reigens von Zufalls-Bekanntschaften und kurzlebigen erotischen Begegnungen und Beziehungen erzählt. Der lockere Duktus der Liniensprache geht stilistisch mit dem Flair des Leichtlebigen einher. In Paris entstehen in dieser Phase auch Arbeiten, die Lackenmacher unmittelbar auf Zeitungspapier malt. Diese "Zeitungsblätter" leben aus dem reizvollen Kontrast von Wort und Bild, zudem sind sie Zeitdokumente besonderer Art.
Zurück aus Paris muss sich der junge mittellose Künstler um seinen Lebensunterhalt kümmern. Lackenmacher sieht sich gezwungen, Auftragsarbeiten jedweder Art anzunehmen, um sein Auskommen zu sichern. Notgedrungen arbeitet er häufig außerhalb seines Metiers, doch bebildert er in jener Zeit auch Bücher und Zeitschriften. Es entstehen Illustrationen, die durch einen souveränen Umgang mit Feder und Tusche und ein brillantes Gespür für die Gestaltung der Fläche bestechen. Bereits in diesen Arbeiten zeigt sich seine verblüffende Sicherheit bei perspektivischen Verkürzungen. Aus der Schicht eines zahlungskräftigen Bürgertums gehen zudem immer wieder Aufträge an ihn, vor allem Bildnisse und Akte sind gefragt. Aber auch mit Tierbildern hält er sich über Wasser. All diese Arbeiten sind aufgrund der gewünschten Ähnlichkeit stilistisch zumeist recht konservativ. Lackenmacher arbeitet nun, dem repräsentativen Anspruch dieser Auftragswerke entsprechend, vermehrt in Öl. Werke im spätexpressionistischen Duktus, mit heftiger Pinselführung und kontrastreicher Farbgestaltung, herrschen vor.
Eine eigene Werkgruppe sind die Interieurs mit Frau. Motivisch dominieren auf diesen Gemälden wohlproportionierte, oft auch füllige Frauenleiber, die in charakteristischen, im Werk seither immer wieder auftauchenden lockenden Posen und-oft gewagten- Haltungen in nicht näher definierten Räumen erscheinen. Sie werden, wie auch das Sujet des Paares, zum Markenzeichen Lackenmachers. Trotz betonter Körperlichkeit -ausladende Hüften, üppiges Dekolletee- wird die Plastizität der Leiber oft durch eine strenge Umrisslinie linear zusammengefasst, was Lackenmachers besondere Neigung zur Graphik auch auf dem Terrain der Malerei verrät. Neben diesen gestalterisch häufig zum Konventionellen neigenden Auftragsarbeiten gilt es jedoch Frauendarstellungen zu entdecken, die sich durch formale Besonderheiten auszeichnen. Damit sind jene graphisch durchgestalteten Werke der späten 1950er Jahre gemeint, in denen der Linie die tragende Rolle zukommt, was sich in einer zeichnerischen Auffassung des Dargestellten niederschlägt. Diese Blätter, in denen der Graphiker Lackenmacher die Überhand gewinnt, gehören nicht nur zum Besten, was Lackenmacher in diesem Genre geschaffen hat, sondern auch zu den schönsten Frauenbildern, die die 1950er Jahre hervorgebracht haben. Sie zeigen einen so eigenwilligen wie eigenständigen Künstlers jenseits des "Mainstreams". Die Melancholie, die von der Mehrzahl dieser Frauendarstellungen ausgeht, ist unübersehbar. Ein auffälliges Charakteristikum vieler Frauenporträts jener Phase ist zudem ihre gesuchte Ausschnitthaftigkeit. Der Fokus liegt auf der Darbietung des Körpers, die dargestellte Person verschwindet in gesichtsloser Anonymität.
Zeigen schon die meisten Gemälde einen souveränen Umgang mit der Farbe und ihren Ausdruckswerten, so erstaunen auch die Farblinoldrucke der sog. "1001-Nacht"- Mappe durch ihr frisches, der Pop-Art nahestehendes Kolorit. Es handelt sich dabei um ein Auftragswerk mit 20 Blättern. Die höchst reizvolle Serie wurde 1960 gedruckt, als Vorläufer entstanden nachweislich jedoch bereits 3 Blätter zum nun integrierten Themenbereich "Aziz, eine Erzählung aus 1001 er Nacht" zu Beginn der 1950er Jahre, wohl 1954. Von der kühlen Eleganz der bereits erwähnten Paris-Mappe schlägt Lackenmacher hier einen Bogen zur Fabulierlust der Geschichten aus 1001-Nacht. Aus der umfangreichen orientalischen Erzählungssammlung wählt er 20 Episoden und Motive aus, die für Liebe und Verrat, Leidenschaft und Begehren, Erfüllung und Tod stehen. Mit ihrer thematischen Ausrichtung fügen sie sich in Lackenmachers eigenen Bilderkosmos bestens ein. Ein weiteres Mappenwerk widmet sich ebenfalls einem großen alten Stoff. In der sog. "Bibel-Mappe" (1960/1963), wiederum eine Auftragsarbeit, wendet sich Lackenmacher ausgewählten Episoden aus dem Buch der Bücher zu. Auch dieser Zyklus umfasst 20 Blätter, die als Nolargravierungen entstanden und von Hand nachgestochen wurden. Bemerkenswert ist diese Mappe, weil hinter dem biblischen Stoff häufig ein sehr weltlicher Erfahrungshorizont aufscheint. "Adam und Eva" zeigt Lackenmacher beispielsweise als "säkularisiertes" Liebespaar, das weniger der Bibel als der Hippie-Bewegung entsprungen zu sein scheint. Auf vielen weiteren Blättern nutzt Lackenmacher die biblischen Geschichten als Vorwand sowohl für seine Darstellungen starker, erotischer Frauen, als auch für die Wiedergabe dramatischer, oft gewaltgetränkter Situationen. So entsteht eine höchst unorthodoxe Bibel-Mappe, deren eigentümlichem Reiz man sich kaum verschließen kann.
In den 1960er Jahren entstehen zudem viele Blätter in der Technik der Monotypie. Die Monotypie steht gewissermaßen als Zwitter zwischen den Gattungen Zeichnung und Druck. Lackenmacher schätzte sie sowohl wegen der Unmittelbarkeit des Verfahrens als auch aus Kostengründen. Für Sammler sind Monotypien insofern interessant, als jeder Abdruck ein Original darstellt. Auch im Bereich der Monotypien finden sich Lackenmachers bevorzugte Themen. Neben Aktdarstellungen sind vor allem Porträts auf uns gekommen, darunter auch mehrere Doppelporträts. Tierdarstellungen und Szenen aus dem Zirkusmilieu erweitern das Spektrum zusätzlich.
Mit dem Erwerb einer Druckpresse kommt es 1966 zu einem wichtigen Wendepunkt im künstlerischen Schaffen von Otto Lackenmacher. In den folgenden Jahren entsteht ein umfangreiches Radierwerk. Die Technik der Radierung, vor allem der Kaltnadelradierung, entspricht seinem künstlerischen Temperament offenbar sehr. Sie erlaubt ein unmittelbares, spontanes Arbeiten auf der Metallplatte. In der bekenntnishaften Formel "Radier oder krepier", die sich auf einer Radierung aus dem Jahr 1984 findet, wird die existentielle Bedeutung des künstlerischen Arbeitens nachdrücklich in Worte gefasst. Die Drastik der Aussage hat ihre Parallelen in einer zunehmenden Radikalisierung innerhalb der von Lackenmacher bevorzugten Themen. Neben Interieurdarstellungen mit Bezug zu Lackenmachers unmittelbarer Lebenswelt entstehen in zunehmendem Maße Blätter, die traumhaft-unwirklich anmutende Bildererfindungen zeigen. Typische thematische Inventionen jener Zeit sind die wohlproportionierten Akte in teils spektakulärer Perspektive vor tristen städtischen Architekturkulissen in einer Atmosphäre kühler Unbehaustheit. Das Personal seiner Werke erweitert er in dieser Phase um symbolträchtige Tiere und surreale Mischwesen wie Zentaurfrauen. Stilistisch ist hier auch die 1972 entstandene sog. Traumstadt-Mappe zu verorten.
In diesem Zeitraum entsteht auch die berühmt-berüchtigte "Paria-Mappe" (1973), bestehend aus 36 Radierungen, in denen sich die Tonlage deutlich verschärft hat. Ein Teil dieser Blätter wird später nochmals im Konvolut "Alter Knacker go home" Wiederverwendung finden. Die Darstellungen kreisen fast ausnahmslos um sexuelle Aktivitäten und haben durch die unverblümte Wiedergabe von Geschlechtsakten beträchtlich zum Skandalruf dieses Konvoluts beigetragen. Lackenmacher taucht thematisch in das Rotlichtmilieu ab und zeigt die Akteure der Halbwelt inklusive ihrer Tabubrüche, Auswüchse und Exzesse. Mit der Paria-Mappe leistet Lackenmacher seiner Einschätzung als Triebzeichner erheblichen Vorschub. Doch muss klargestellt werden, dass selbst die "Paria-Mappe" trotz der Vielzahl als anstößig empfundener Sujets und drastisch direkter Szenen aus Bars und Bordellen, Hinterhöfen- und Hinterzimmern, nicht ausschließlich Bilder der Lüsternheit und orgiastischen Enthemmtheit enthält. Nicht selten wird die Zurschaustellung von Intimitäten auch in derart entlarvender Trostlosigkeit inszeniert, dass sie einen ungetrübten Voyeurismus verhindert.
Lackenmacher war ein großer Verehrer der Kunst von Francisco Goya. Mit seinen skandalträchtigen Radierungen trachtete er ausdrücklich danach, an dessen großes, radikales Radierwerk anzuknüpfen. Dem Spektrum des Grausamen und Abartigen in Goyas Radierzyklen wollte Lackenmacher bewusst die Facette des Pornographischen und seiner Gewaltverhaftetheit hinzufügen, was auf vielen Blättern Niederschlag gefunden hat. Folgerichtig fasste er unter dem Titel "Hommage à Goya" eine Reihe solcher Blätter zusammen. Es soll sich dabei um 36 Radierungen handeln, die wohl in einer 14er-Auflage gedruckt wurden. Der derzeitige Forschungsstand ermöglicht bis auf wenige Ausnahmen keine einwandfreie Zuordnung zu dieser Edition.
Das Radierwerk mutet heute schier unübersichtlich groß an. Die Themenvielfalt ist reich, die Qualität schwankt. Die Gründe dafür sind vielfältig, dürften aber vor allem in der wirtschaftlichen Not des Künstlers zu suchen sein, der durch Auftragsarbeiten sein Überleben sichern musste. Auch hier ist Lackenmachers Bandbreite groß: Sie reicht von den pornographischen Arbeiten zu den Saarbrücker Stadtansichten, denen er eine gewisse skandalfreie Popularität verdankte. Doch gibt es immer wieder Blätter von besonderer Güte, deren existentielle Tiefe sich von den zahlreichen, eher banalen Allerweltsthemen einer Erwerbskunst deutlich abhebt. So verströmt manche Radierung eine verstörende Aura von Paranoia, Erschöpfung und Ausweglosigkeit.
Ein Stipendium führt Lackenmacher 1979 nach Berlin, wo er im Bezirk Kreuzberg 36 eine Bleibe findet. Hier, im Epizentrum der Hausbesetzerszene, entstehen zahlreiche graphische Arbeiten, von denen besonders jene 36 Federzeichnungen Erwähnung verdienen, die unter dem Titel "Kreuzberg 36" 1980 als Buch erschienen. Darüber, ob der knappe Titel programmatisch an eine Gruppe von Berliner Realisten, die unter dem Namen Großgörschen 35 firmierten, anknüpft, kann nur spekuliert werden. Sicher ist jedoch, dass Lackenmacher im Problemstadtteil Kreuzberg seinen ureigenen Gegenstandsbereich findet: den Menschen in seiner prekären gesellschaftlichen Wirklichkeit. Lackenmachers Zeichnungen sind auf den ersten Blick unspektakuläre Momentaufnahmen, doch sie fügen sich Blatt für Blatt zu einem Kaleidoskop einer von starken Gegensätzen geprägten Sozialstruktur am unteren Rand der Gesellschaft zusammen. Dies erfolgt ohne jegliche verklärende Sozialromantik oder wertende Kommentierung, sondern mit dem nüchternen Blick eines zeichnenden Chronisten. Seine Motive: spielende Kinder, alternative Paare, lauernde Jugendgangs, Prostituierte an Allerweltsorten wie U-Bahnstationen, Hinterhöfen, Kneipen. Die ruhige Sachlichkeit, mit der Lackenmacher die Szenen einfängt, verdankt sich seiner zeichnerischen Disziplin. Die disparaten Themen werden allesamt einem spröden, beherrschten Zeichenstil unterworfen. Dichte, zumeist gleichmäßige Schraffuren überziehen die Objekte und Menschen, die Übermusterung der Blätter durch Rauten-, Kreuz- oder Netzstrukturen ist von ausgewogener Gewichtung. Lackenmacher verzichtet in seinem Zeichenstil auf Dramatik, setzt in ihrer Strenge eher auf den dokumentarischen Anspruch, denn einen emotionalen Ausdruck. Die Authentizität und Zeitaktualität seiner Blätter steigert er durch einen einfachen Kunstgriff: Offen für die urbanen Prozesse in seiner Umgebung integriert er schon früh Graffiti und Wandparolen in seine Werke und betreibt dadurch ein Crossover zur Street Art. Die besagten Elemente der Subkultur sorgen für einen unkonventionellen unangepassten Anstrich seiner Arbeiten.
Mit seinen "Kreuzberg 36"- Zeichnungen wirft Lackenmacher Streiflichter auf ein heterogenes soziales Biotop, die den Mythos Kreuzberg, heute gefährdet durch Sanierung und Gentrifizierung, nochmals aufleuchten lassen. Im Rückblick weisen die Blätter neben ihrer künstlerischen Qualität damit auch einen soziologischen Mehrwert auf. In die Kreuzberger Phase gehören diverse sehenswerte Einzelblätter, in denen Lackenmacher die soziale und politische Gemengelage dieses Kiezes mit lakonischer Beiläufigkeit ins Bild setzt.
1981 erscheint ein weiterer Bildreigen aus dem Kreuzberger Milieu, der unter dem Namen "Alter Knacker go home" veröffentlicht wird. Der "Zyklus mitten aus dem Leben", so der Untertitel, enthält 40 Radierungen, von denen jedoch nur ein Teil neu ist, während die übrigen Blätter aus der früheren Paria-Serie stammen. Die Zusammenstellung dieser zeitlich mehrere Jahre auseinanderliegenden Arbeiten – der Entstehungszeitraum reicht von 1973-1981- ist für den stilistisch heterogenen Charakter dieses Konvolutes verantwortlich. Inhaltlich bleibt Lackenmacher seiner Linie weitgehend treu: Wieder tummeln sich Prostituierte und Freier auf seinen Blättern, entführt er uns ins triste Milieu der gesellschaftlichen Verlierer und Außenseiter, dem er selbst zugehört. Dass dem so ist, verhehlt Lackenmacher nicht. Im Gegenteil: Auf vielen Blättern begegnet uns der Künstler selbst. Mal als passiver Zaungast, mal als aggressiver Hauptakteur der Szene. Die Schilderung von Gewalttätigkeiten unterschiedlicher Schwere nimmt zu. Handgreiflichkeiten, Schlägereien, gar ein imaginierter (Lust)-Mord kommen zur Darstellung. Andererseits spricht aus vielen Arbeiten des alkoholkranken Künstlers die Sehnsucht nach Geborgenheit und zwischenmenschlicher Nähe. Es entstehen neben den Blättern mit schroffer Attitüde solche von anrührender und melancholischer Qualität.
Lackenmacher feilt in seinen letzten Lebensjahren nach Kräften an seinem Image als trinkendem Künstler und exzessivem enfant terrible der Kunstszene, und nach dieser Hinsicht mag die griffige Charakterisierung als "Triebzeichner" plausibel erscheinen. Von Volker Lehnert geprägt, aus dessen Feder luzide Einschätzungen zu Lackenmachers Werk stammen, greift der mit der Zweideutigkeit jonglierende Begriff mit seiner Engführung von sexuellem und künstlerischem Trieb doch letztlich zu kurz. Die begriffliche Nähe zum Triebtäter ist zu diskriminierend als dass sie impulsive Könnerschaft und produktiven Eros eines besessen Arbeitenden ohne störenden Beigeschmack umschreiben könnte. Es ist jedoch eine Wahrnehmung, die Lackenmacher selbst herausfordert. Aus kunsthistorischer Perspektive scheint dagegen die Nobilitierung Lackenmachers als Peintre Graveur überfällig, um seinen künstlerischen Rang zu fassen. Sein spontaner und impulsiver Stil zeigt die Freiheit und Verve des Radierers, der sich vom reinen Reproduktionsstecher absetzt.
Beispielhaft für Lackenmachers Selbststilisierung in dieser Phase ist die Radierung "Trio Infernale" von 1984. Hier stellt sich Lackenmacher in Gesellschaft seiner künstlerischen Leitsterne Goya und Bukowski dar. An Goya schätzt er dessen düsteres und abgründiges Radierwerk, an Charles Bukowksi das Image des trunkenen und unberechenbaren Genies. Das Leben des Skandaldichters Bukowski weist zahlreiche Parallelen zu Lackenmachers eigener Vita auf. Zentrale Motive seines stark autobiographischen Werkes wie die krasse bis obszöne Darstellung von Sexualität und Erotik sowie die Zugehörigkeit zum Milieu der Außenseiter und Gescheiterten mag die besondere Affinität Lackenmachers zu diesem "Dirty Old Man" erklären.
Nicht minder skandalumwittert ist der Autor, dem Lackenmacher 1984 die schlicht "Sade" betitelte Radierfolge widmet. Marquis de Sade (1740–1814) steht wie kaum ein anderer für sexuelle Grenzüberschreitungen und einen ausschweifenden libertinären Lebensstil. Die Radierungen dieser Folge sind geprägt von einer Melange aus Gewalt und Sexualität, aber auch durch den nüchternen Blick auf abgewirtschaftete Körper, worin sich der Realist Lackenmacher zeigt. Im Spätwerk prägt sich zudem eine persönliche Ikonographie des "Bukowksi von der Saar" aus: Requisiten wie Weinglas, Revolver, Zigarette und Weinflaschen tauchen nun auf vielen Blättern wie auch auf den späten Gemälden auf.
Eine letzte Radierfolge thematisiert das Leben der legendären Chansonette Edith Piaf. Stilistisch ist die Mappe (Edith Piaf, 12 Radierungen von 1985) wie auch die Folge "Sade" recht konventionell und mutet ein wenig zeitverspätet in der Machart an. Lackenmacher scheint sich vor allem vom schwierigen Leben der Protagonistin mit all seinen Höhen und Tiefen angezogen gefühlt zu haben.
In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren nimmt Lackenmacher die Malerei wieder verstärkt auf. Es entstehen nun viele Bilder oft derben Inhalts und Ausdrucks, was mit einem grellbunten, aggressiven Kolorit korrespondiert. Der Präsenz dieser zumeist großformatigen Arbeiten in Öl kann man sich dennoch schwerlich entziehen. Lackenmacher bleibt bis zuletzt ein Schilderer und Erzähler. Seine Themen -Lebenswelten weit ab von der bürgerlichen Ordnung- sind die gleichen geblieben, doch die Darstellungsweise hat an Härte zugenommen. Mit kompromisslosem Mut zur Hässlichkeit stellt er die defizitäre Welt der sozial Deklassierten und Randständigen gleichsam im Hardcore-Modus dar. Den sentimentalen Blick versagt sich der Realist Lackenmacher gänzlich. Trotz dieser generellen Verschärfung der Tonlage sind auch im Spätwerk anrührende Bilder der Sehnsucht nach zwischenmenschlicher Nähe zu finden. Das Motiv der Umarmung zieht sich wie ein roter Faden durch das Oeuvre.
Emotionale Betroffenheit und offensichtliches Pathos des Menschlichen durchdringt vor allem die Frühwerke Lackenmachers spürbar, wohingegen die späten Schilderungen der 1970er und 80er Jahre durchweg nüchterner und illusionsloser, oft auch aggressiver erscheinen. Bis zuletzt ist Lackenmachers Weltwahrnehmung jedoch durch Empathie geprägt. Diese Leidempfindlichkeit macht bei aller Härte und Rohheit, die dem Betrachter daraus gelegentlich entgegenschlägt, den humanen Kern des Lackenmacherschen Werkes aus. Lackenmacher eigenes Fazit lautet: "Die Leute, die ich zeichne, sind die mit den Narben." (Saarhexe, 1985).
1988 stirbt Otto Lackenmacher gerade einmal 61-jährig in seinem Atelier im Nauwieser Viertel in Saarbrücken.
Barbara Weyandt
Werke in öffentlichen Sammlungen
Pfalzgalerie Kaiserslautern: 6 Druckgraphiken, Vorstadt, 1966, Vorstadt II, 1967, Hommage à Goya 1974, Paria, 1973, Liegender Akt, 1972, Liegender Akt, 1976
Mappenwerke und Zyklen
Buchillustrationen
Institut für aktuelle Kunst im Saarland, Archiv, Bestand: Otto Lackenmacher, Dossier 779
Landesarchiv des Saarlandes, Bestand E Nachlässe und Sammlungen von Familien und einzelnen Personen, II Einzelne Personen, 2 Künstler, Otto Lackenmacher
Privatpersonen | Schüler*innen, Studierende | Praxen, Kanzleien, gewerbliche Einrichtungen und Firmen | |
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je Kunstwerk | 50 € | 30 € | 80 € |
Für alle Entleiher gilt: