Susanne Kocks ist eine scharfe Beobachterin. Oft richtet sie den Fokus auf scheinbare Nebensächlichkeiten, auf Dinge, die viele gar nicht bemerken oder als belanglos einstufen: Treibgut, Wasserläufe, Vögel. In ihrer künstlerischen Arbeit wertet sie diese Objekte auf, indem sie Veränderungen notiert, denen sie unterliegen. So macht sie das, was allgemein als unerheblich gilt, für andere interessant. Doch nicht nur das, ihre protokollarischen Bestandsaufnahmen lösen darüber hinausgehend Fragen nach zeitlichen Verläufen und damit nach Vergänglichkeit und der Relevanz von Augenblicken aus.
Bereits in ihrer Diplomarbeit setzt sie sich sowohl schöpferisch als auch theoretisch mit „Formen zeichnerischer Protokolle“ auseinander. Seitdem dient ihr das Protokoll als adäquate Methode für ihre prozesshaften Gestaltungsabsichten. Als Sonderfall des Berichts halten Protokolle Abläufe und Ergebnisse von Vorgängen, Versammlungen, Projekten oder wissenschaftlichen Experimenten fest. Sie sind neutral verfasst, verzichten auf persönliche Beurteilungen und dienen als Beweismittel, Kontrollinstrument oder Information für Außenstehende. Im deutschen Sprachgebrauch ursprünglich bei juristischen Verfahren angewandt, bezeichnet der Begriff heute eine Vielzahl sachlicher Niederschriften. Im sozialen Bereich belegen sie Debatten, Sitzungen oder Verhandlungen, in Forschung und Medizin Versuchsanordnungen und deren Befunde, in der Informatik und Telekommunikation definieren sie Daten- und Beziehungsstrukturen, in der Diplomatie Regelungen bei staatlichen Zeremonien. Neben wort- oder codegebundenen Systemen bietet das Bild eine weitere Möglichkeit gegliederter Dokumentation von Geschehnissen.
Zeichnungsprotokolle gehen von visuellen Wahrnehmungen aus und beruhen auf den am Entstehungsort vorherrschenden Bedingungen sowie dem Befinden der agierenden Person. Vollkommene Objektivität können sie nicht erreichen, zu stark fließen individuelle Faktoren in die von Hand ausgeführten Arbeiten ein. Stimmung, Konzentration und Genauigkeit schwanken während einer Aufmerksamkeitsspanne, was sich im gezeichneten Resultat niederschlägt. Es kann daher selbst bei Wiederholungen eines identischen Motivs niemals gleich sein. Die Bleistiftspur ist Ausdruck der momentanen Verfassung der Künstlerin oder des Künstlers, Geschwindigkeit und Impulsivität ihrer Entstehung geben Auskunft über physische und psychische Konditionen.
Die Charakteristika zeichnerischer Protokolle und ihre eigenen Ziele und gestalterischen Lösungen hat Kocks 2013 sehr präzise reflektiert und formuliert. Am Beispiel eines Kronleuchters der Basilika St. Johann in Saarbrücken analysiert sie ihre Versuche eines möglichst gegenwärtigen und auf einen immer gleichen Gegenstand fokussierten kreativen Schaffens. Die Zeichnung erfolgt „blind“, nur sporadisch geht ein Blick zur Kontrolle kurz aufs Papier. Im selben Tempo wie das Auge umreißt die Hand die visuell ertastete Form. Die zeitliche Begrenzung der Sinnesleistung für diese Art der Protokollierung integriert sie als unvermeidlichen Faktor in ihr Werk. Es handelt sich um eine erkenntnisorientierte Kunstproduktion, die Rückschlüsse auf unbewusste, kaum manipulierbare Wahrnehmungsabläufe eröffnet. Abschweifungen scheinen unvermeidlich, sobald die Achtsamkeit nachlässt. Erinnerungen schleichen sich ein und beeinflussen das folgende Bild. Der sich unwillkürlich aufbauenden Routine versucht sie laut eigenen Aussagen dadurch entgegenzuwirken, dass sie manchmal eine Zeichnung gegen den Uhrzeigersinn anlegt.
Der von der Decke herabhängende Kronleuchter bleibt identifizierbar, er wandelt seine auf Konturen reduzierte Gestalt jedoch von Blatt zu Blatt. Mal wirkt er runder, mal etwas schief, er kann ornamentale Details offenbaren oder ganz fragmentarisch bleiben. Entstehungsdatum sowie die genaue Uhrzeit des Arbeitsbeginns und -endpunktes sind auf dem Papier notiert. Sie geben Auskunft über die Herstellungsdauer der jeweiligen Zeichnung und ihrer Sequenz innerhalb des seriellen Kontextes.
Dieses akkurate und auf Nachvollziehbarkeit ausgerichtete Vorgehen behält Susanne Kocks auch in anderen Werkzyklen bei. In vielen ist die Entstehungsphase in Minuten angegeben, in weiteren eine Reihenfolge per Nummerierung. Immer wird deutlich gemacht, dass es sich um die Wiedergabe einzelner Bestandteile eines längeren Prozesses handelt. Das Interesse kann äußerlich bedingten Modifikationen des Sujets gelten wie bei den vom Wind verursachten Bewegungen der Fahnen im als Monotypien realisierten Beitrag zur W Quartirje Editionenmappe von 2013 oder in dem gezeichneten Zyklus Flattern aus dem Jahr 2014. Die im gleichen Zeitraum angefertigten Zeichnungen Fontäne Deutschmühlenweiher und Wasserprotokolle untersuchen ebenfalls unter künstlerischen Kriterien ein lokal fixiertes Element, das in erster Linie aufgrund von Luftstößen und ferner von Faktoren wie Wasserdruck, Strömung oder Sog kontinuierlich alterniert.
Anders verhält es sich in den Werkgruppen, bei denen der Bildgegenstand selbst variiert, weil am Ursprung oder Ziel der Beobachtung eine aktive Handlung stattfindet. Das 2018 auf einer 640 cm langen und 70 cm breiten Papierrolle mit Tusche gezeichnete Treibgut, Donau zeigt eine anschauliche Auflistung der Dinge, die im Verlauf der eintägigen Arbeitssitzung am Ufer auf der Donau vorbeidrifteten: vor allem natürliche Abfälle wie Blätter, Stöcke, Äste, außerdem Enten und Ruderboote samt Besatzung. Das Format ist ungewöhnlich und greift in seiner nicht ganz einsehbaren Länge und der kalligrafisch anmutenden, ägyptischen Hieroglyphen verwandten Struktur des abgebildeten Treibgutes das fortwährende Dahinströmen des Flusses auf. Wie dessen Wasser gleitet die Zeit vorüber, daher gilt der Fluss als Metapher des Lebens. „Vergänglichkeit kann ganz schön schnell passieren“, vermerkt Kocks am 25. Juni 2014 auf ihrer Homepage anlässlich der vor Ausstellungsende entwendeten Installation der Siebdruckserie Souvenirs im Humbergturm Kaiserslautern (Stand 22.08.2022). In ihren Momentaufnahmen bannt sie diese Flüchtigkeit binnen eines kurzen, exakt bemessenen Intervalls.
Auch die mehrteiligen Reihen Saarkormorane und Mille Piccioni (Tausend Tauben), beide aus dem Jahr 2017, geben wechselnde Situationen zu unterschiedlichen Zeitpunkten am gleichen Ort wieder. Die Kormorane schweben als konturierte oder flächige Silhouetten auf dem Weiß des Papiergrundes und differieren in den 15 Darstellungen bezüglich Körperhaltung, Position und Gruppenkonstellation. Ob sie schwimmen oder manchmal doch vielleicht fliegen, ist nicht bei jedem Vogel eindeutig benennbar und tatsächlich zweitrangig, denn alle vermitteln sie das Grundgefühl, sich schwere- und sorgenlos tragen zu lassen. Die acht Blätter der Mille Piccioni, die den berühmten Tauben auf der Piazza San Marco in Venedig gewidmet sind, bilanzieren deren dortige Population zwischen dem 2. und 9. April 2017. Die dynamischen, frei skizzierten und mitunter ornamental geschwungenen Linien fangen täglich eine Stunde lang das für die Zeichnerin sichtbare, lebhafte Treiben der Vögel ein. Trotz der divergierenden Perspektive und damit einhergehenden kompositionellen Gewichtung stimmen sämtliche Szenen grundsätzlich überein in der Charakterisierung der Tiere als Einzelwesen wie in der Verdichtung und Unkenntlichkeit dieser Individuen inmitten ihrer zahlenmäßig unüberschaubaren Ansammlung am Boden des Platzes.
Der durch das Fenster ihres Ateliers registrierte Verkehrsstrom von 2021 visualisiert gleichfalls Bewegungsabläufe selbstständig agierender, in diesem Beispiel motorisierter Teilnehmer in bestimmten Zeitabschnitten, wobei die Fluktuation abhängt von Anzahl und Geschwindigkeit der Fahrzeuge. Grand Périple / Sightseeing dagegen, die 2017 begonnene und noch nicht abgeschlossene Folge kleiner, zwischen zwei Stempeldrucken platzierter, inhaltlich recht vielfältiger Zeichnungen, dokumentiert eine Auswahl statischer Dinge und Ansichten, die der Künstlerin beim Unterwegssein auf ihren Reisen ins Auge springen. Dazu gehören Pflanzen, Architekturen, Personen, Statuen, Landschaftselemente, jeweils mit Angabe des Ortes und Datums. Die gestempelten Leisten geben den Bildern Halt und schaffen einen gemeinsamen Rahmen dieser gemischten Motivreihe.
Die diversen Werkgruppen unterliegen keinem Schema, sondern sind variabel konzipiert. Manche widmen sich einem zeitgleich in mannigfaltigen Ausprägungen an einem einzigen Ort vorgefundenen Gegenstand wie Wattwurmhaufen 1-99 vom 24.05.2017 am Strand von Trégastel. Andere thematisieren analoge Beobachtungen, die zeitlich und räumlich voneinander abweichen, so die bereits 2014 initiierte, in verschiedenem Umfang in Heftform präsentierte Taubenschau, die auf Spielplätzen aufgestellten Wippfiguren der Mobilés von 2017/18 oder die saisonale Kleidungsstücke offerierenden Schaufensterpuppen der Serie In Season.
Neben den Zeichnungen dient in einigen Protokollen auch die Sprache als künstlerisches Ausdrucksmittel. So summiert das Nachrichtenprotokoll Deutschlandfunk synchrone Mitschriften des exakten Wortlautes der am 15.05.2015 im Radio kommunizierten Informationen zur aktuellen politischen Lage. Der Verkehrsfunk aus dem Jahr 2013 konzentriert sich in ähnlicher Art auf die augenblicklichen Verkehrsverhältnisse. Die sich wandelnden, von Hand notierten und später auch von der Künstlerin gelesenen und als Audiodatei veröffentlichten Texte zeichnen ein Wort- und Klangbild der akustisch perzipierten Mitteilungen. Wie die Zeichnungen spiegeln auch sie ungeschönt die Dauer der geistigen Aufnahme- und motorischen Reproduktionsfähigkeit der Zuhörerin wider, enthalten daher Lücken oder brechen mitunter abrupt ab. In der Edition La Bonne Vie, 2016-2018/20, sind dagegen, den Treibgutlisten vergleichbar, binnen zwei Jahren gesammelte Boots- und Schiffsnamen aufgereiht.
Ob in Sprache oder Bildern, Susanne Kocks hält auf authentische Weise marginale, veränderliche Ereignisse fest und addiert sie zu einem aufschlussreichen Report. Von Beginn an ist die tastende und oft nur andeutende Strichqualität ihrer Zeichnungen bereits ausgereift. Selbst die kleinsten Formate wie die Philatelie von 2011/12 oder die Pairs von 2013 bekunden den typischen, unfertigen und offenen Charakter ihrer Spurensicherungen. Den fragmentarischen Aspekt verleugnen ihre skizzierten Wahrnehmungen keineswegs. Sie machen deutlich, dass wir das Angebot an Sinnesreizen immer nur annähernd rezipieren können. Dank serieller Wiederholungen vervollständigen die explizit terminierten Momentaufnahmen das untersuchte Phänomen und gewähren damit den Anspruch eines Protokolls.
Petra Wilhelmy
Redaktion: Petra Wilhelmy
Alle Abbildungen: VG Bild-Kunst, Bonn
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