Ursel Kessler ist keine Malerin mit einem gewöhnlichen Werdegang. Ihre künstlerische Biographie ist außergewöhnlich kurz und umso erstaunlicher, wenn man die überraschende Aktualität ihrer neuesten Bilder berücksichtigt. Viele Aspekte der zeitgenössischen Malerei, wie die Auflösung von Abstraktion und Gegenständlichkeit oder etwa die Einbeziehung neuer Medien, sind in ihren Werken zu finden.
Bis zum Jahr 2000 arbeitete Ursel Kessler ca. 30 Jahre hauptberuflich als Lehrerin für Mathematik und Physik. Erst dann ließ sie sich von ihrer Tätigkeit als Lehrerin freistellen, um sich ganz der Kunst zu widmen. Ihr eigentlicher Wunsch, Architektur zu studieren, war in ihrer Jugend nicht zu erfüllen und sollte für ihre nachfolgende Malerei noch eine Rolle spielen. Ab den 1980er Jahren belegte sie verschiedene Kurse bei Dozenten im Saarland und ab den 1990er Jahren fanden erste Ausstellungsbeteiligungen statt. Mit dem Bild "Dachterrasse" 2004 gelang der Autodidaktin der Durchbruch zu einer neuen Werkphase, die auf den ersten Blick ohne Beziehungen zu ihren früheren Arbeiten steht. Ursel Kessler hat mit diesem Beginn nun ihr ureigenes Thema in der Malerei gefunden.
Ihre Frühphase begann etwa im Jahr 1989. Es entstanden die "Lothringer Häuser" als erste Acrylbilder auf Papier. Sie zeigen alte, verfallende Fassaden von lothringischen Bauernhäusern im benachbarten Frankreich. Es sind ausschließlich die Fassaden mit ihren Rissen, Löchern und bröckelndem Mauerwerk zu sehen, isoliert vom übrigen Kontext. Durch die Fenster- und Türöffnungen wird die Bildfläche eigentümlich rhythmisiert, wie die Künstlerin es in ihren späteren Architekturbildern wieder aufgreifen wird. Unbelebt und vielleicht unbewohnt stehen die Fassaden als stumme Zeugen der Vergangenheit ohne Hinweise auf menschliches Leben. Ursel Kessler faszinierte die Vergänglichkeit von Bauwerken, die sich mit dem fortschreitenden Verfall eine besondere Patina zulegen. Der Charme des Verfalls bleibt ein immer wiederkehrendes Sujet auch in ihrer weiteren Arbeit. Die Farbgebung der Bilder ist bräunlich-monochrom, nur an einigen Stellen sind Farbakzente gesetzt.
Ein großer Einschnitt für Ursel Kesslers künstlerisches Wirken war ihr Besuch in der Burbacher Hütte, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht öffentlich zugänglich gewesen ist. Sie unternahm einen ausgedehnten und intensiven Rundgang durch das Industriedenkmal. Sie fotografierte, zeichnete und sammelte Fundstücke, um ihren Besuch so eindringlich wie möglich in Erinnerung zu behalten. Die Begegnung mit den Spuren des alltäglichen Hüttenalltags der Arbeiter weckte ihre Faszination. Viele Jahre noch schöpfte sie aus diesen Erinnerungen für ihre Werkphase der sog. "Hüttenbilder".
In die Hüttenbilder integrierte die Künstlerin Fundstücke, wie z.B. die ehemaligen Schichtblätter der Arbeiter oder Schalt- bzw. Grundrisspläne, und schaffte somit eine belebte und vom vergangenen Industriealltag beseelte Leinwand. Auf die Fläche setzte sie ein Liniengefüge, welches an einigen Stellen mit architektonischen Gebäuden, oder, auf anderen Bildern, mit Werkzeugen assoziiert werden kann. Ursel Kessler widmete sich mit diesen Bildern den Möglichkeiten der gegenstandslosen Kunst. Sie bearbeitete den Malgrund intensiv, um diesen so lebhaft wie möglich zu gestalten. Er trägt die unterschiedlichsten Rot-, Braun- und Schwarztöne, in Mischtechnik Acryl und Beize ausgeführt. Die Farbgebung symbolisiert den Ruß, den Rost und auch den Dreck des verfallenden Industriedenkmals. Sie ließ mit diesen Bildern den "Geist" der alten Burbacher Hütte auferstehen. Das verfallende Industriedenkmal mit seinen Spuren der Vergangenheit wird dem Betrachter lebhaft vor Augen geführt und bewahrt zugleich das Geheimnisvolle einer früheren Zeit. Ähnlich wie bei den lothringischen Bauernhäusern suchte die Künstlerin abermals den maroden Charme des Verfallenen.
In den folgenden Jahren führte die Künstlerin diese Bildsprache fort, entfernte sich jedoch von ihren konkreten Erinnerungen an die Burbacher Hütte. Die Bilder blieben gegenstandslos und konzentrierten sich auf das Figur-Grund-Problem. Der Bildträger als Malgrund wurde dabei abermals intensiv bearbeitet. Mit verschiedenen Malschichten, opakem oder durchscheinendem Pinselduktus, Farbklecksen oder Spritzern werden informelle Einflüsse sichtbar. Die Leinwand wird farblich in Flächen eingeteilt, Wiederholung von abstrakten Formen malerisch aufgesetzt, die Fläche rhythmisiert. Später setzte die Künstlerin sich mit architektonischen Grundrissen auseinander, die abstrahiert auf dem Malgrund dargestellt werden. Manchmal griff sie auf plastische, geometrische Formen zurück, die dem Malgrund seinen Bildraum wiedergaben. Parallel zur Malerei übte Ursel Kessler sich auch in druckgraphischen Techniken und in der Zeichnung. In den Jahren 1999/2000 entstanden Schwarz-Weiß-Holzschnitte, die motivisch auf Werkzeuge des Hüttenwesens zurückgehen. Auffällig ist die stete numerische Darstellung der Gegenstände, die das Papier rhythmisieren.
Die Zeichnungen zeigen Strukturen von Gegenständen, deren Lineatur konstruktiv angelegt ist.
2002 brach Ursel Kessler mit ihrem Malstil und probierte sich in gänzlich Neuem. Sie wählte große Leinwandformate und wandte sich einer hyperrealistischen Malweise zu. In Folge entstanden die sog. "Küchenbilder", die Utensilien aus der Küche zeigen. Nun mehr legte sie ihr Augenmerk auf die möglichst getreue Abbildung des glänzenden Stahls der Küchengeräte, die überdimensional und in verschiedenen Grautönen zu sehen sind. Von diesen Bildern zu ihren aktuellen Arbeiten war es nur noch ein kleiner Schritt. Charakteristisch bleibt das große Format und die monochrome Farbgebung. Städtebau und Architektur stehen seit dem Jahr 2004 in Mittelpunkt ihrer Malerei. Das Bild "Dachterrasse" ist das erste seiner Art und symptomatisch für das, was noch kommen sollte. Ursel Kessler wählt den unspektakulären Blick auf Motive. Die Dachterrasse eines Hochhauses zeigt keine Spuren von organischem Leben, weder Mensch noch Tier. Eine graue Farbgebung unterstreicht die Tristesse. In anderen Bildern malte sie Autobahnkreuze aus der Vogelperspektive oder Brückenkonstruktionen. Deutlich wird, dass ihr motivisches Interesse auf der Struktur oder dem Konstruktiven liegt. Mit dem Bild "Fassade" gewann Ursel Kessler 2007 den Preis der Kulturstiftung der Sparkasse in Karlsruhe. Als Ausschnitt ist die Fassade eines Wohnblocks, wie man ihn aus südeuropäischen Ländern kennt, zu sehen. Die Darstellung verzichtet auf jegliche Spuren der Bewohner, im Vordergrund steht die Rhythmisierung durch Fensteröffnungen, Balkone und Kästen der Klimaanlagen. Durch das Grau sind die Bilder kühl und distanziert, ohne Kommentar auf das Gemalte. Ursel Kessler möchte mit ihren Werken weder die menschenunwürdigen Wohnbauten aus Beton noch die Zerstörung der Natur durch den Menschen verurteilen. Sie malt "das was da ist". (Die in Anführungszeichen gesetzten Aussagen der Künstlerin sind einem Gespräch mit der Autorin entnommen.) Vielmehr arbeitet sie an malerischen Problemlösungen und versucht "spannende Formen" zu finden. Das Grau übernimmt sie aus ihren zeichnerischen Erfahrungen und wählt es, um "sich nicht festlegen zu müssen". Grau ist eine neutrale Farbe, ohne eindeutige Symbolik.
Dennoch wirkt das Grau in jedem ihrer Bilder differenziert. In einzigartiger Weise bringt die Künstlerin einen Nuancenreichtum an Grautönen hervor, der keine weiteren Farben vermissen lässt. In einigen Bildern setzt sie Farbakzente, die in Konfrontation mit dem Grau zu leuchten beginnen. In anderen Bildern arbeitet sie mit Lackfarben als neuem Material. Lack bedeutet einen opaken Farbauftrag, der den Blick des Betrachters auf die Oberfläche bindet. Der Blick aus einem fahrenden Auto wird in "Grünstreifen" (2007) durch das ungewöhnliche extreme Querformat betont. Der Eindruck von Geschwindigkeit entsteht durch Unschärfe. Einzig der Mittelstreifen ist mit Lack gemalt und gibt dem Bild seinen Halt. Oftmals sind ganze Partien der Bilder nicht ausgearbeitet. Der Pinselduktus und Tropfspuren bleiben sichtbar. Stellenweise erinnern Bildpartien an informelle Arbeitsweisen. Gleichzeitig bleibt die Künstlerin jedoch stark am Gegenstand.
Ihre malerischen Vorlagen findet Ursel Kessler in der Zeitung oder im Internet, wo sie spektakuläre Ansichten von Städtebau und Architektur auswählt. Selten verwendet sie ihre eigenen Fotos, da der "eigene Blick nur ein winziger Teil" sein kann. Gelegentlich werden mehrere fotografische Vorlagen zu einem Bild montiert, wie z.B. bei "LS2". Eine organisch wellenförmige Plastik befindet sich in einem eng begrenzten Raum und lässt eine Ausstellungsansicht vermuten. Die formal-ästhetische Lösung wird dem Inhalt bevorzugt.
In der Serie "Abrissbauten" (2008) griff sie nochmals die Patina der Vergangenheit auf. In leerstehenden Wohnblocks, die kurz vor dem Abriss stehen, verbrachte sie mehrere Stunden, um die Atmosphäre einer vergangenen Zeit zu erleben. Die kleinen Formate zeigen unbewohnte Räume, mit den Spuren ihrer ehemaligen Bewohner.
Eines ihrer jüngsten Bilder, "Einkaufszentrum" (2010), verbindet informelle Maltechnik mit moderner Architektur. Das große Foyer mit dem Blick auf die Ladengalerie beherrscht die Bildkomposition. Eine durch das Bild führende Treppe verleiht ihm Räumlichkeit, die durch einen LED-Screen auf der Leinwandoberfläche verstärkt wird. Glitzernde und verheißungsvolle Waren in den Schaufenstern werden lediglich mit sichtbarem Pinselstrich angedeutet. Die visuelle Reizüberflutung verliert sich in Unschärfe. Zahlreiche pastose Farbklänge in lockerer Pinselführung, die von Grau dominiert werden, symbolisieren die bunte Konsumwelt. Tropfspuren von Farbe und die unbearbeitete Leinwand am rechten unteren Bildrand verweisen auf den Malprozess. Ohne ausgeführte Details, nur mit der übermächtigen Stahl-Glas Konstruktion eines architektonischen Innenraumes wird dem Betrachter der Überfluss und die Übermacht der Einkaufswelt vor Augen geführt und er gleichzeitig mit einer großartigen malerischen Technik konfrontiert.
Silke Immenga
Redaktion: Sandra Kraemer
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