Der 1887 in Schwäbisch Gmünd geborene Hans Herkommer studierte von 1906 bis 1910 Architektur in Stuttgart bei Theodor Fischer, Paul Bonatz und Martin Elsässer. Er gehört damit zu den Architekten der so genannten "Stuttgarter Schule", die von seinen Lehrern sowie von Paul Schmitthenner geprägt war. Nach kurzer Angestelltentätigkeit in Dresden und Chemnitz ließ er sich 1913 als freier Architekt in Schwäbisch Gmünd nieder, bevor er ab 1919 sein Büro in Stuttgart betrieb. Von Anbeginn seiner Tätigkeit als Architekt bis zu seinem Tode 1956 gelangen ihm wegweisende Bauten in der Verbindung von Tradition und Moderne.
Seit den 1920er Jahren avancierte Herkommer zu einem einflussreichen und stilbildenden katholischen Kirchenarchitekten, der im Gegensatz zu Dominikus Böhm und Rudolf Schwarz vor dem Zweiten Weltkrieg ausschließlich "Wegkirchen" baute. Sein Ziel war ein "gemeinschaftsbildender Raum mit freier Sicht nach der Opferstätte für alle Teilnehmer am Gottesdienst und mit freier Sicht nach dem Prediger. Dieses Streben der Gemeinschaft zu gemeingültigem Opfer, zu gemeingültiger Feier und zu gemeingültigem Wort verlangt gebieterisch nach einem sichtbaren pfeilerlosen Einraum" (Neuzeitliche Kirchenkunst, S. 176). Doch dieses Ziel erkannte und erreichte er erst, nachdem er mit dem Bau mehrerer Kirchen umfassende Erfahrungen gesammelt hatte. Anfangs ersetzte er lediglich überlieferte Bauweisen durch moderne Konstruktionen. In St. Michael in Saarbrücken entsprachen sich Innenraum und äußerer Baukörper nur unvollkommen, der Kultraum war in ein anders geformtes Haus hineingestellt und der Dachraum war kaum genutzt. Herkommers Streben aber ging dahin, Innenraum und umhüllenden Baukörper zu einer Einheit zu verschmelzen und er begründete es so: "Zurück zum Wesentlichen heißt es auch in der Architektur und das bedeutet zurück zum Körperhaften. Die Fläche spielt eine untergeordnete Rolle. Und das Ornament so gut wie gar keine. Das Körperhafte, Kubische leitet uns heute; wir wollen die klare Herausbildung der Baukörper und ein Inbeziehung- und Inbewegungsetzen der verschiedenen Kuben und Räume eines Baukörperkomplexes. Uns beschäftigt das klangvolle Hineinstellen der Baumassen in das Landschafts- und Platzbild. Die Baukörper entstehen aus der Raumvorstellung und diese wird geboren aus dem sakralen Erlebnis." "Eine sehr bedeutende Rolle im Kirchenbau spielen heute sodann Konstruktion und Material. Neue Konstruktionsmöglichkeiten und neue Materialien (Beton, Eisen, Glas) stehen uns zur Verfügung. (…) Aber neue Konstruktion und neues Material bilden noch nicht die Bedingung zum neuzeitlichen Sakralbau. Und noch weniger bedeutet bloß die Verwendung neuzeitlich technischer Mittel, auch neuzeitliches Bauen. Wesentlicher vielmehr, d.h. ausschlaggebend ist, dass wir nur mit der Konstruktionsbauweise und dem Material von heute (…) in dem Geist zu bauen vermögen, wie es unserem heutigen Gestaltungswillen und unserem gegenwärtigen sakralen Raumgefühl entspricht." Er verteidigte die Übernahme von Konstruktionen und Materialien des Profanbaus in den Kirchenbau: "In der Geschichte ist es noch nie da gewesen, dass der Sakralbau eine gänzlich andere Geistesgrundlage zeigte als der Profanbau." Weiter heißt es: "Es schadet also auch heute weder dem Ansehen noch der Weihe der kirchlichen Kunst, wenn sie sich von der weltlichen beeinflussen lässt; ihre letzte Prägung erhält sie doch vom Geist und von der Seele, welche ihr die R-e-l-i-g-i-o-n einhauchen. Darum ist es ja auch so wichtig, dass die Gestaltenden in i-n-n-e-r-e-r Verbundenheit mit der Religion und dem Leben der Kirche stehen." (Neuzeitliche Kirchenkunst, S. 176) Konsequenterweise war er bereit, auf das Vorstellungsvermögen seiner Bauherren und Nutzer Rücksicht zu nehmen und ihnen mit einem bekannten und gewohnten Formenvokabular, mit traditionellen Rundbögen oder modischen expressionistischen Details den Zugang zu erleichtern. Sein Ziel war der einheitliche pfeilerlose Raum mit flacher Decke, formale Details durften durchaus "Förmchen" sein.
Einen wegweisenden Kirchenbau gelang Herkommer mit der Frauenfriedenskirche in Frankfurt, 1928 erbaut. Die Eingangsfassade wurde zu einem vielfach nachgeahmten sakralen Motiv. Die Baugestalt entwickelt sich erstmals aus der Konstruktion. "Die Frauenfriedenskirche in Frankfurt gilt heute mit Recht als einer der besten modernen Kirchenbauten. Hier hat Herkommer zum ersten mal auf jeden Gegensatz zwischen Innen- und Außenbau verzichtet. Von nun an ist der Begriff der 'Identität' des Inneren und Äußeren, des Raumes und seiner Ummantelung ein Hauptmerkmal seiner Kunst." (Baum, S. 366) Bemerkenswert ist auch der Bauherr, der Katholische Deutsche Frauenbund, dessen damalige Vorsitzende, Hedwig Dransfeld, sich für den Bau der Kirche engagierte. Mitten im Ersten Weltkrieg, 1916, fasste sie den Plan: "Die deutschen Frauen müssten eine Kirche bauen, ein großes monumentales Bauwerk (…) zum Gedächtnis der Helden und zur stillen Gebetssammlung für alle, die den Frieden erflehen wollen." (Broschüre, S. 3) Von der einsetzenden großen Spendenbereitschaft für den Kirchenbau konnte das Grundstück gekauft werden, die restlichen Gelder gingen durch die Inflation verloren. Das Vorhaben aber wurde nicht aufgegeben und 1926 ein Wettbewerb unter allen deutschen Architekten ausgeschrieben. 157 Baumeister beteiligten sich. Den Ersten Preis erhielt Dominikus Böhm, mit einem christozentrischen Vorschlag. Weitere Preisträger waren Hans Döllgast, Hans Holzbauer und Hans Schwippert, die alle zur Creme der damaligen Architektenschaft zählten. Hans Herkommer erhielt nur einen Ankauf und wurde dennoch mit dem Bau beauftragt. Denn zusammen mit der Kirche waren auch Pfarrbüro und Wohnungen sowie ein Gemeindesaal gefordert. Aus Herkommers Idee, diese Baulichkeiten winkelförmig um einen Ehrenhof zu führen und mit der Kirche zu verbinden, entstand ein Gesamtensemble von überzeugender Eindringlichkeit. Am 16. November 1927 wurde der Grundstein gelegt, am 5. Mai 1929 die der Mater dolorosa geweihte Kirche der Kirchengemeinde St. Elisabeth übergeben. Die Kirche auf einer leichten Anhöhe in Frankfurt-Bockenheim, weithin sichtbar in einem lose bebauten Wohngebiet, ist auf einen großen Platz an der Zeppelinallee ausgerichtet, den der monumentale Portalbau beherrscht, ein scharfkantiger Block der 20m in die Höhe strebt. In die Tiefe schneiden sich drei eng nebeneinander stehende Rundbogennischen ein, beeindrucken mit strahlender Farbigkeit. Schwere eiserne Eingangstüren bilden die Sockel für kunstvolle Mosaikbilder, rechts den Frieden, links den Krieg symbolisierend. Die mittlere Portalnische füllt zudem eine raumgreifende und riesenhafte von Mosaik überzogene Statue der Maria mit der Friedenskrone, geschaffen von dem Karlsruher Bildhauer Emil Sutor. An diesen Portalkubus schließt sich in östlicher Richtung ein niedriger Baublock für die Taufkapelle an, während auf der anderen Seite der Ehrenhof den Übergang zu den Gemeindeeinrichtungen schafft. Dreiseitig von einem Arkadengang umgeben, der das Motiv der enggestellten Bogen aufnimmt und Einblick gewährt, erinnert der Hof an einen mittelalterlichen Kreuzgang, einen Ort der Stille und des Gedenkens. Auf den Arkadenbögen sind zur ständigen Erinnerung die Namen von Opfern beider Kriege eingemeißelt. Das Kirchenschiff, ein langer Rechteckkubus setzt sich klar ab gegen den quergelagerten Chorbau, niedrige schmale Seitenschiffe schließen sich an. Der mit Mauerwerk ausgefachte Stahlbetonskelettbau ist zusätzlich mit einem Kunststein verkleidet, der in Struktur und Farbe den Natursteinquadern ähnelt, die die Bogenöffnungen überwölben, aber aus Kostengründen nicht im gesamten Bau verwendet werden konnten. Eingetreten durch eine Vorhalle, den niedrigen Raumbereich unter der Sängerempore durchschritten, überwältigt der saalartige Kirchenraum, an dessen Ende sich hinter einer weitgespannten Rundbogenöffnung der Altarraum in die Höhe schraubt. Seitliche Rundbogenfolgen begrenzen das Kirchenschiff und wirken als lichtdurchlässiges und durchscheinendes Gitter, das mit den von hohen Rundbogenfenstern durchbrochenen Außenwänden der Seitengänge, der zweiten Raumschale, zu einer diaphanen Wand verschmilzt. Dominierend ist jedoch wie in St. Michael, die allerdings konstruktiv nicht vergleichbare Decke. Hier laufen auf jeder Seite fünfreihige Betonbalken parallel zur Längsachse. Sie liegen auf fünf massiven Querbalken auf und rahmen einen mittleren höher hinaufgehobenen Deckenteil, freischwebend über weiteren Querbalken in engerem Raster. Sie durchbrechen noch den Längsfluss der Decke. Der Besucher geht weiter auf dem Weg zum Hochaltar. Wie ein Triumphtor öffnet sich ein Bogenfeld, macht eine fünfzehnstufige, raumfüllende Treppenanlage sichtbar, die hinaufführt zum Altar. Einseitig fällt strahlendes Tageslicht durch hohe Rundbogenfenster in den Chor, steigert die Wirkung der Decke, die aus drei konzentrisch angelegten Stahlbetonringen konstruiert ist, deren Radius nach innen abnimmt und die künstlich beleuchtet sind. Licht streift über die gerade Chorrückwand beachtlichen Ausmaßes und bringt große Putz-Mosaikbilder (eine damals neue Technik), von intensiver, differenziert gestufter Farbigkeit, zum Leuchten. Im Mittelpunkt steht riesengroß mit weitausreichender Geste der siegreiche Christus am Kreuz. Sechs Gruppen mit bedeutenden Frauengestalten der Kirchengeschichte und darunter Maria, die Mater dolorosa, scharen sich um ihn. Den Bilderzyklus entworfen und ausgeführt hat Josef Eberz aus München. Das Motiv der konzentrischen Kreise wiederholt sich in der Decke der Krypta, die sich unter dem Chor befindet, während in der runden Taufkapelle eine Glaskuppel Licht auf das Taufbecken im Zentrum fallen lässt. Herkommer hat die Atmosphäre der Kirche wesentlich auch durch die Beleuchtung erreicht, wobei sich natürliches, durch farbige Glasfenster einfallendes Licht mit künstlichen Lichtquellen - Leuchten in den Rundbogennischen oder den Deckenringen - verbindet und die sakrale Raumwirkung steigert. Trotz schwerer Kriegseinwirkungen, denen insbesondere die originalen Glasfenster zum Opfer fielen (sie wurden 1961 vom Frankfurter Künstler Joachim Pick ersetzt durch Fenster mit großflächigem geometrischen Muster und reduzierter Farbigkeit), konnte die Frauenfriedenskirche als ein Gesamtkunstwerk erhalten bleiben, wie es Herkommer geplant hatte.
Die pfeilerlose Basilika hatte Herkommer mit dieser bedeutenden Kirche aber noch nicht entworfen. Wenige Jahre später gelingt es Herkommer, auf die Querbalken zu verzichten. Mit der kühnen Idee, anstelle der Querbinder die Decke auf Längsbinder aufzulegen, fand er den Durchbruch, um eine Raumdynamik und einen Raumrhythmus zu erzielen, die sich einzig auf den sakralen Mittelpunkt hin bewegen Die Herz-Jesu-Kirche in Ratingen (1927) konstruierte er mit Hilfe von nur zwei Längsbindern. "Zwei Längsgitterträger genügen für die Abdeckung des Kirchenraumes und zwei derartige Längsgitterträger gliedern sich dem Organismus des Kirchenraumes in der glücklichsten Weise ein. Da an einem Ende des Kirchenraumes der Altarraum und am anderen Ende der Raum für Orgel und Sängerbühne schmäler sind als der große Hauptraum, bieten die eckig versteiften Wände des Altar- und des Orgelraumes sich zwanglos als Auflager der beiden gewaltigen und doch so wirtschaftlichen Längsbinder an, deren große Höhenentwicklung doch zwanglos in die Wände des hohen Mittelschiffes gelegt werden kann. (…) Diese Überbrückung des Kirchenraumes durch hohe und seitlich versteifte Längsbinder ist ein Wunderwerk moderner Technik. Die Brücke schwingt sich frei vom Altarraum bis zur Sängerbühne und so ergibt sich zwanglos aus der Konstruktion die erstaunliche Raumform der pfeilerlosen Basilika." (Hegemann, S. XIV) Mit dem Stahlskelettbau der Ratinger Herz-Jesu-Kirche kommt Herkommer seinem Ideal höchster "Identität" zwischen innerem Kirchenraum, dem pfeilerlosen Einraum und äußerem Baukörper sehr nahe. Der klare und gestraffte Raum erhält einen Saalcharakter, in dem Altarbereich und Gemeindebereich zu einer in sich geschlossenen Einheit geführt werden.
Auch St. Anna in St. Wendel-Alsfassen war, wie die Ratinger Kirche, die in den 1960er Jahren wegen großer Bauschäden abgerissen wurde, eine pfeilerlose Basilika mit gerader Chorabschlusswand, konstruiert als Stahlbau mit dem Längsbindersystem. Diese Kirchen Herkommers schufen die konstruktiven Voraussetzungen auch noch für den Kirchenbau der Nachkriegszeit.
Herkommer errichtete auch einige Wohnhäuser. Anfang der 1920er Jahre vor allem in Schwäbisch Gmünd noch in traditionellen, regionaltypischen Bauformen u.a. das Wohnhaus Köhler (1922). In St. Ingbert steht in der Kaiserstraße ein von expressionistischen Details geprägtes Wohnhaus, das der Architekt Ende der 1920er Jahre für den Maler Fritz Helmut Becker entwarf. Nahezu gleichzeitig, 1927/28, entstand in Kaiserslautern das großzügige Landhaus des Emaillefabrikanten Max Glaeser. 1927 errichtete er auch sein eigenes Wohnhaus in Schwäbisch Gmünd, wie die Villa Glaeser im Formenkanon des Neuen Bauens, jedoch traditionsverbunden, mit einem sehr flachen Walmdach.
Bis ins Detail von expressionistischer Formensprache geprägt war die ab 1924 entwickelte Saarbrücker Landeszeitung in der Ursulinenstraße. Spitzbogenarkaden und Wandbilder aus Mosaik finden sich auch im Paulusheim in Bruchsal, 1921 erbaut, oder am Rathaus in Schwenningen am Neckar. Nur wenige Bauten legen Zeugnis ab von Herkommers Tätigkeit auf dem Gebiet des Industriebaus. Dazu gehören das Heimbach Kraftwerk in der Nähe von Freudenstadt oder die Murgtal-Brauerei in Gaggenau. Sein bedeutendster Industriebau war jedoch zweifellos die Becker Brauerei in St. Ingbert. Ihr Sudturm wurde zu einem stadtbeherrschenden Wahrzeichen.
Herkommers Umgang mit Baumaterialien ist immer der Aufgabe angemessen, die Ästhetik seiner Bauten entwickelt er aus der Konstruktion und bedenkt dabei auch die ökonomischen Vorteile, eine Forderung der modernen Architektur. Gleichzeitig verschließt er sich nicht aktuellen architektonischen Moden, nimmt ein expressionistisches Formenvokabular auf, beteiligt sich am "Farbigen Bauen". Den Sudturm der Becker Brauerei schuf Herkommer aus Sichtbeton, aus dem einzig die roten Fensterrahmen leuchten. Obwohl er Eisen, Glas und Beton als die Materialien der Zeit preist, nutzte er Sichtbeton nur im Profanbau. Seine stützenfreien Längsbinderkirchen, mit denen er sich ja gerade auch die Vorteile dieses Materials, das große Spannweiten und monumentale Höhen ermöglicht, zu Nutzen machen kann, sind als Stahlbetonskelett konstruiert, mit Mauerwerk ausgefacht und verputzt, wie St. Anna in St. Wendel-Alsfassen. Die frühen Kirchen, etwa St. Michael in Saarbrücken, sind noch mit regionaltypischen Bruchsteinen verkleidet, die zerstörte Suso-Gedächtniskirche beeindruckte mit sorgfältig gefügtem Klinkermauerwerk und die Frauenfriedenskirche trägt ein Kleid aus Muschelkalk-Kunststeinplatten, dessen Optik Herkommer als einen Teil des Gesamtkunstwerkes betrachtete und daher exakt konstruierte. Während der Nazidiktatur erhielt Herkommer keine neuen Aufträge mehr. 1940 schließt er sein Büro in Stuttgart, arbeitet als Angestellter bei der Wehrkreisverwaltung und wird 1942 zur Wehrmacht eingezogen. Nach seiner Entlassung 1945 eröffnete er 1946 erneut ein Architekturbüro, um es bald gemeinsam mit seinem Sohn Jörg Herkommer zu betreiben. Es besteht bis heute. Am 1965 stirbt Hans Herkommer im Alter von erst 68 Jahren.
Marlen Dittmann
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Redaktion: Oranna Dimmig, Claudia Maas
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