Siegbert Gölzer war kein Macher. Die Produkte wurden erspürt, sie reiften allmählich, bevor sie schließlich ihre natürliche Form fanden.
Er hat seine berufliche Ausbildung mit einer Lehre in einer Schreinerei begonnen, die für seine Arbeitsweise und seine Auffassung von Design bestimmend wurde. Alle weiteren Stationen seiner beruflichen Ausbildung, Zimmermannspraxis und Studium an der Akademie in Stuttgart in den Fächern Möbelbau, Innenarchitektur und Hochbau, basieren auf dem Schreinerhandwerk.
Auch in seiner beruflichen Laufbahn verlässt er diesen Weg nicht mehr. Weder als Designer in einer Orgelfabrik noch wenn er als Mitarbeiter von Professor Herbert Hirche Büromöbelsysteme entwickelt. Die Vorreiterrolle Skandinaviens in Design und Architektur lockt ihn für zwei Jahre nach Finnland. Er trifft im Design-Center Basel von Herman Miller Inc. mit Charles Eames zusammen, der sich genauso von der Qualität des Materials leiten lässt, der aber auch mit ganz neuen Materialien und Materialkombinationen experimentiert. Während dieser Berufsjahre standen die Entwicklung von Systemen, Programmen, Produktfamilien und deren Ausrichtung auf die fertigungstechnischen Besonderheiten der jeweiligen Büromöbelhersteller im Vordergrund. Es war sicherlich bereits abzusehen, wann in der Büromöbelbranche die Fertigungslinien der Massenproduktion endgültig den Umgang mit den Materialien und die Gestaltung zu dominieren begännen.
Dies mag ihn 1971 bewogen haben, den Ruf an die Fachhochschule des Saarlandes in Saarbrücken anzunehmen, um dort den neuen Fachbereich Industrie-Design aufzubauen. Wenige Jahre später konnte er dort sein eigenes Atelier eröffnen und nun unabhängig von den Diktaten der Industrie seine eigenen, handwerklich geprägten Vorstellungen von Gestaltung entwickeln. Ihn reizte fortan, wie er 1985 im Rückblick erkennt, nichts mehr, „als den Widerspruch zwischen industrieller Produktion und ganz persönlicher Anmutung durch einen Entwurf aufzuheben.“
Eigene Entwicklungen vor dieser Zeit, wie etwa der bespannte Stapelstuhl für die Mauser Werke, sind noch stark beeinflusst vom Purismus Hirches, seines Lehrers und zeitweiligen Arbeitgebers. Noch steht die reine, auf das Wesentliche reduzierte Form im Vordergrund. Die Form als reine zeitlose Funktion. Die Konstruktion ist entmaterialisiert auf pure Linien oder umgekehrt, die Linien der technischen Zeichnung, die Idee, sind gerade eben noch materialisiert. Material und Verarbeitung haben nur dienende Funktion. Das Material, dünnes chromblitzendes Stahlrohr, erfüllt die Funktion des Tragens und Federns und hebt sie hervor, die Lederbespannung beugt sich den wirkenden Kräften und verspricht sich der Sitzlast anzupassen.
Die Entwürfe, die jetzt entstehen, zeigen weiterhin einfache und klare, funktionsbedingte Formen. Sie wirken allerdings fast ausnahmslos robust und solide, zeigen offen die Technik ihrer materialgerechten Herstellung und nutzen und enthüllen den Zauber natürlicher Materialien. Seine Formen sind nicht länger zeitlos abstrakt, sondern knüpfen an die erlernte handwerkliche Technik an. Er setzt auf Kontinuität, als erstmals erkennbar wird, dass die rasante Entwicklung der technischen Produktionsmittel nicht nur Vorteile bringt. Die Anonymität der Massenprodukte führt zur Identitätskrise des Individuums. Wertvolle zivilisatorische Errungenschaften werden von kurzfristigen Verkaufsvorteilen verdrängt. Des Konsumismus der 1960er Jahre überdrüssig, setzt man jetzt zwar allgemein wieder auf Tradition. – Die einen kaufen sie sich auf den Flohmärkten, die anderen borgen sich anheimelnde Gemütlichkeit von vergangenen Stilepochen.
Während dieses hierzulande bald vorherrschende Geschichtsverständnis nur am Dekor, am nostalgischen Look, interessiert ist, erforscht Siegbert Gölzer seither die handwerkliche Tradition nach ihren Gestaltungs- und Funktionsprinzipien. Er wird darin zum leidenschaftlichen Sammler, als er entdeckt, wie subtil und nuancenreich sie ist, trotz ihrer Beschränkung auf einige wenige Materialien und vermeintlich primitive Bearbeitungstechniken. Gerade die einfache, klar durchschaubare materialtypische Formgebung ist das eigentlich Aufregende. So ist er zwar nicht gegen das Neue, allenfalls gegen das Neue mit aller Gewalt. Aber er nimmt die modernen Fertigungstechnologien in die Pflicht. Die Art der Verarbeitung muss die Eigenschaften des Materials und seine Funktion sinnlich erfahrbar werden lassen. Das Material muss sich in Verarbeitung ausdrücken, die Verarbeitung nicht nur dem Material gerecht werden, nicht nur – sozusagen – hinreichen. Entwerfen bedeutet für ihn nicht, seinen subjektiven Gestaltungswillen durchzusetzen, nicht seinen zufälligen Launen und Einfällen nachgeben, sondern sich vom Material und seinem in langer Bearbeitungstradition erschlossenen Wesen inspirieren und leiten zu lassen.
Seine Entwürfe entstehen in ständigem Erfahrungsaustausch mit dem Material. Deshalb spielt der Modellbau in seinem Atelier eine eminent wichtige Rolle. Er baut Modelle, nicht um eine Entwurfsidee zu visualisieren, sondern er entwirft im verkleinerten Maßstab. Was ein Gussteil werden soll, wird gegossen, was gebogen werden soll, gebogen, was tiefgezogen werden soll, tiefgezogen. So macht er sich das Material quasi spielerisch zu eigen.
Nicht umsonst war er ein Spielzeugnarr. Er liebte die Holz- und Metallbaukästen und Spielzeuge mit ihren unmittelbar einsichtigen elementaren technischen Funktionen. Handfeste Spielsachen, mit denen kind/man umgehen konnte, nicht die detailgetreuen Miniaturisierungen, die Kinder zu kleinen Erwachsenen vervollkommnen wollen. Und er entwickelte selbst Kinderspielzeug und ermunterte auch seine Studierenden immer wieder dazu. Bei Kinderspielzeug kommt es nicht auf technische Details an. Deshalb reizte ihn daran wohl die besonders unmittelbare Form des Materialerlebens.
Natürlich konnten die Produkte, die auf diese Weise entstanden, kaum Auftragsarbeiten sein, denen jeweils klare Vorgaben gesetzt sind. Es waren immer eigene Produktideen eines ständig neugierig und kritisch die Umwelt Beobachtenden oder, wie die Freiburger Küche, „Abfallideen“ aus Auftragsentwicklungen für Kücheneinrichtungen. Aufträge kamen dann von zufriedenen Kunden, die seine Gestaltungsauffassung schätzen gelernt hatten und teilten. Oder sie kamen von Kunden, die von seiner Art, erst einmal alles in Frage zu stellen, Anregungen zu funktionellen Verbesserungen erwarteten.
Seine Hauptarbeitsgebiete blieben Wohn- und Sitzmöbel, Küchen- und Büroeinrichtungen und Hausgeräte. Später griff er Aufgabenstellungen aus dem öffentlichen Bereich auf, in den er zuletzt über die Hälfte seiner Entwurfstätigkeit investierte. Er avancierte zum Public Designer, längst bevor dieser Begriff geprägt wurde. Auslöser war die Einrichtung einer Fußgängerzone in der Saarbrücker Altstadt. Er hatte erfahren, dass man in den Katalogen einschlägiger Hersteller noch nach passenden Straßenlampen suchte. An Lampenideen hatte er bereits in Finnland gearbeitet. So war er kurzfristig in der Lage, mit speziell auf die dortigen bescheidenen historischen Gegebenheiten angepassten Straßenlaternen zuvorzukommen. Eine einfache historisch anmutende Form, bedingt durch die moderne, aber ebenso traditionelle Gusstechnik. Design für ein historisches Environment. Seine Straßenlaterne sieht zwar nicht auf alt gemacht aus, sie ist nicht historisierend, aber sie ist historisch. Sie ist nicht aufdringlich, sondern unauffällig, nicht nostalgisch dekorativ, sondern nüchtern funktional, nicht imitierend, sondern werkstoffecht und -gerecht.
Bei den aus Beton gegossenen Fahrradständern erzielt er dagegen Harmonie ohne historische Assoziative. Er setzt jetzt vitale, aktuelle Kontraste und verbindet durch Analogien. Die betongegossenen Fahrradständer, die später in derselben Altstadt aufgestellt wurden, sind einerseits technisch perfekt aus einem modernen Werkstoff neu gegossen. Darin stehen sie im Kontrast zum gebrochenen und handverlegten Pflaster aus früheren Tagen, das sie umgibt. Andererseits wachsen sie im natürlichsten aller modernen Baustoffe in analogem Rhythmus aneinandergereiht organisch aus dem Pflaster in die Höhe. Das harte Flächenmuster löst sich langsam auf in weicher Plastik. Ein sanftes Bett, das den harten Beton mit der runden Form des Rads und seinem elastischen Gummireifen vermittelt. Ein harmonisches Zusammenspiel der Charaktere der unterschiedlichen Materialien und ihrer genuinen Formtechniken. Das ist der Umgang mit den Materialien, für den die Tradition noch ein ausgeprägtes Gespür hatte. Eine Bearbeitungstechnik, die dem Material ihm gemäße Formen und Funktionen gibt. So lassen sich Historie und Gegenwart spannungsvoll, aber bruchlos vermitteln.
Der Korbsessel, der von der Bundesbahn für die Bestuhlung ihrer Bahnhofshallen und Bahnsteige übernommen wurde, entstand ursprünglich ebenfalls als Straßenmobiliar für die Saarbrücker Altstadt um den St. Johanner Markt. Wieder aus Stahlrohr wie der bespannte Stapelstuhl. Diesmal jedoch nicht in jener schonungsbedürftigen zerbrechlichen technischen Perfektion, sondern aus robustem, fast unbeholfen gebogenem Material. Darüber wiederum ein Drahtgitter gelegt, das sichtlich aufgeschweißt und dessen Enden einzeln zum Rohr hin glattgefeilt sind. Die gleichgeformte Sitzschale und Rückenlehne dann ebenfalls hemmungslos offen gegen die Beine verschraubt. Der Stuhl widersteht unzweifelhaft jeder Verwitterung und jedem Vandalismus. Er ist jedoch nicht nur stählern robust, sondern sieht mit den unverhohlenen Spuren von Handwerklichkeit auch robust aus. Weder die Präzision der geometrischen Schalen, noch die Wirtschaftlichkeit der teilesparenden Formwiederholung, sondern die handwerkliche Verarbeitung steht hier für Qualität. Patinabraune Lackierung verspricht zusätzlich langes natürliches Altern. Rustikalität nicht nur als Look, die deshalb harmoniert mit dem handverlegten Pflaster und den altersgebeugten Gebäuden der Umgebung.
Siegbert Gölzer machte es nichts aus, dass Fachkollegen seine aus Sperrholz jeweils individuell angefertigte „Freiburger Küche“ abqualifizierten. Nach langjährigen Entwicklungserfahrungen wusste er bestens Bescheid um die „abgrundtiefe Unehrlichkeit“ bzw. deren zwanghafte Ursachen im Küchenbereich. Die Gegendarstellung sollte bewusst provozieren. Sie musste deshalb besonders bescheiden sein und materialecht. Keine Fassade, Kaschierung oder Furnierung durfte die Vielzahl der unterschiedlichen Funktionen vereinheitlichen. Seine Küche zeigt offen, „was sie hat und sie ist, was sie zeigt.“. Sie ist integriert nur über Qualität. Gleichzeitig schlägt er – sozusagen als Kompetenzbeweis – eine revolutionäre Neuerung vor: die „Balkonschublade“, die endlich Beinfreiheit an der Küchenzeile schafft. Es ist nicht seine einzige Neuerung für den Küchenbereich. Er entdeckte eine ganze Anzahl, weil es ihm niemals nur um eine weitere der sattsam bekannten Pseudoalternativen ging, sondern ums Kochen. Zustatten kam ihm dabei, dass er Architekt war, seine genaue Kenntnis der Funktionen des Hauses, und dass die Küche nicht zu allen Zeiten all die Funktionen beherbergte, die sie heute in sich vereint. Aus der Tatsache zum Beispiel, dass die meisten Wohnungen weder einen kühlen Keller, noch eine Speisekammer haben, die bestimmte Lebensmittel angemessen frischhalten, leitet er den dreigeschossigen Kühlschrank ab. Zum Gefrier- und Kühlfach fügt er noch ein Frischhaltefach hinzu. Er nennt es absichtsvoll Kellerfach. Die einschlägige Industrie soll nicht als revolutionär verkaufen können, was eine uralte Tradition nur evolutionär bewahrt.
Siegbert Gölzer war konservativ nicht aus Gesinnung, sondern aus Erfahrung. Seine Entwürfe wollten erlebt werden, und man sollte Spaß an und mit ihnen haben. Erleben und Spaß waren auch die obersten Bewertungskriterien für studentische Arbeiten. Wenn es schon ein Heimtrainer sein musste, dann durfte er kein Folterinstrument sein, sondern sollte zum Benutzen verführen. Generationen von Studierenden ließ er Ideen entwickeln, die das Fahrrad wieder attraktiv machen sollten. Es schien ihm das geeignete Fortbewegungs- und Transportmittel, um die innerstädtischen Verkehrsprobleme zu lösen. Es würde uns nervenaufreibende Hektik, Lärm, Gedränge und Parkplatzsuche nicht allein ersparen, sondern uns durch Bewegung gar beleben. Es würde die Innenstädte von den verunstaltenden Blechhalden entrümpeln und über den entseelten Parkplätzen wieder zusammenfügen. Die Stadt würde im doppelten Sinne wieder als Lebensraum „erfahrbar“.
Natürlich sympathisierte er mit den grün-alternativen Bewegungen. Er unterstützte sie und engagierte sich in ihnen. Schließlich wird die Umwelt ja nicht nur optisch zerstört. Dies aber ist seine persönliche Botschaft, dass nicht nur unsere natürlichen Lebensgrundlagen von Zerstörung bedroht sind, sondern ebenso unsere emotionalen.
Gerd Ohlhauser (1988, redaktionell bearbeitet 2020)
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